Eine Perspektive für die Medizin der Zukunft?
Vor mehr als 100 Jahren begründet, gilt die Anthroposophische Medizin manchen als nicht mehr zeitgemäß. Dabei spielt ihre Leitidee, der Blick auf den ganzen Menschen, auch in den modernen Gesundheitssystemen eine immer größere Rolle. In einer Expertenrunde beleuchten wir die Chancen und Herausforderungen der Anthro-Medizin heute und morgen.
Annette Greco
Die Apothekerin ist als Leiterin der Galenischen Entwicklung für die Produktentwicklung von Arzneimitteln und Kosmetika bei WALA und Dr. Hauschka zuständig.
Dr. med. Claudia Fritsche
Die Fachärztin für Innere Medizin verantwortet den Bereich Medizin bei der WALA Heilmittel GmbH und berät in dieser Funktion unter anderem Apotheker und Ärzte.
Dr. med. Martin Schnelle
Der Arzt ist Leiter des Bereichs Medizin bei der Weleda AG, zu dem die medizinisch-wissenschaftliche Abteilung und die Klinische Forschung gehören
Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat 2014 die Integration traditioneller und komplementärer Medizin in die Gesundheitssysteme als wichtiges strategisches Ziel für die nächsten Jahre definiert. Soeben hat die WHO erstmalig weltweit gültige Ausbildungsstandards auch für die Anthroposophische Medizin veröffentlicht. Welchen Beitrag kann die sogenannte Anthro-Medizin zu einer wirklich integrativen Medizin leisten, und wie profitieren die Patienten davon? Diesen Fragen wollten wir im Gespräch mit Vertretern der beiden großen Hersteller anthroposophischer Arzneimittel auf den Grund gehen und haben uns deshalb mit Dr. med. Claudia Fritsche und Annette Greco von der Wala sowie Dr. med. Martin Schnelle von Weleda getroffen.
natürlich gesund und munter: Immer mehr anthroposophisch orientierte Ärzte sprechen heute von „Integrativer Medizin“. Ist das nicht alter Wein in neuen Schläuchen?
Dr. Claudia Fritsche: Sicherlich nicht, der Begriff integrativ löst die früher gebräuchlichen Bezeichnungen alternative oder komplementäre Medizin ab, die beide die Trennung von der Schulmedizin betonen. Integrativ bedeutet zunächst, dass unterschiedliche medizinische Methoden eingesetzt werden können, sofern sie dem Patienten helfen. „Integrativ“ ist also auch ein Appell für mehr Dialog zwischen den verschiedenen medizinischen Welten.
Annette Greco: Ich komme aus der Wissenschaft. Für mich heißt integrieren, die Flexibilität zu haben, zwischen verschiedenen Betrachtungswinkeln zu wechseln. Mein Alltag besteht beispielsweise daraus, dass ich permanent zwischen Naturwissenschaft und Geisteswissenschaften vermittle. Mir hilft ein geisteswissenschaftlicher Blick, der die Natur organisch als Gesamtheit sieht, therapeutisch-kosmetisch interessante Pflanzen oder Mineralien zu entdecken. Erst dann untersuchen wir diese bewusst auch naturwissenschaftlich. Die Inspirationskraft liegt aber in der Geisteswissenschaft.
Dr. Martin Schnelle: Der Begriff macht auch deutlich, dass es hier um Erweiterung geht, und nicht darum, etwas zu ersetzen. Deshalb ist die Anthroposophische Medizin eine Urform der integrativen Medizin, schließlich trug schon das Schlüsselwerk der beiden Gründerpersönlichkeiten
Rudolf Steiner und Ita Wegman (Ärztin) den Titel „Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst nach geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen“. Steiner wollte die Anthroposophische Medizin nicht an die sogenannte Schulmedizin anhängen oder aufpfropfen. Er wollte vielmehr ein erweitertes System der Medizin begründen und die naturwissenschaftlich orientierte Medizin zu einem neuen Ganzen verwandeln.
Was meinte Rudolf Steiner damit?
Dr. Schnelle: Die Anthroposophie versteht sich als eine Wissenschaft des Geistes im wörtlichen Sinne. Es ging Steiner darum, die Erkenntnis des Geistigen für die Pädagogik, die Landwirtschaft und eben auch für die Medizin zu erschließen und aus diesem Geistigen heraus das Physische neu zu verstehen.
Was bedeutet das konkret bezogen auf die Medizin?
Dr. Fritsche: Dass körperliche und seelische Beschwerden immer zusammengehören. Erkrankt jemand, ist das nie rein physisch oder rein seelisch oder rein geistig, sondern hat immer auch eine psychosomatische Komponente. So hat beispielsweise die körperliche Ebene Schmerz immer auch eine seelische Dimension, das kann ich gar nicht abkoppeln. Und der Schmerz hat durch die Art und Weise, wie man damit umgeht, auch eine geistige Dimension. Habe ich trotz meiner Schmerzen noch andere Interessen und versuche, eine Tagesstruktur aufrechtzuhalten, oder bin ich ganz gefangen in meinem Schmerz?
Anthroposophische Arzneimittel setzen auf die Salutogenese, indem sie die inneren Kräfte der Selbstheilung stärken.
Wie wirkt sich diese Ganzheitlichkeit auf die Art der Arzneimittel aus?
Dr. Schnelle: Während chemisch definierte Medikamente pathogenetisch orientiert sind und das Krankhafte unterdrücken, wirken die anthroposophischen Arzneimittel salutogenetisch, indem sie das Gesunde stärken. Gerade in der Entstehungsphase einer Erkrankung spielt die Möglichkeit, salutogenetisch Einfluss zu nehmen, eine große Rolle. Greco: Denn es sind ja die eigenen Kräfte, die eine Krankheit, ein Symptom hervorbringen. Warum trauen wir dem Menschen nicht auch zu, gesund zu werden? Das verändert den Blick: Nicht das Arzneimittel ist aktiv, der Mensch ist in der aktiven Rolle. Das Arzneimittel wird zum Impuls, zur Idee, auch zur Kraft, wie er selbst den Weg aus der Erkrankung finden kann.
Heißt das, die anthroposophischen Arzneien sprechen vor allem die inneren Heilungskräfte an?
Dr. Fritsche: Ja, genau. Ein gutes Beispiel ist die Chirurgie. Der beste Chirurg ist ohne Wundheilung als Fähigkeit des Patienten machtlos, wenn sich die Wunde nicht schließt – und genau dazu braucht es die Regenerations- und Heilungskräfte.
Dr. Schnelle: Aber dass der Chirurg ran muss, ist schon Ausdruck eines eher fortgeschrittenen Schadens, der möglicherweise entstanden ist, weil die funktionellen Stadien zu Beginn der Erkrankung ignoriert wurden – von Patientenseite oder auch vom Arzt. Kommt es dann tatsächlich zur Manifestation, kann die anthroposophische Arznei allein mitunter nicht mehr helfen, und es werden andere Behandlungsansätze notwendig, etwa eine Operation.
Dr. Fritsche: Das geschieht in der Anthroposophischen Medizin ganz selbstverständlich, denn sie hat die Schulmedizin als Grundlage. Alle anthroposophischen Ärzte sind durch das normale Studium gegangen, haben sich niedergelassen und praktizieren anerkannt. Die Anthroposophische Medizin ist ein Angebot zur Erweiterung, das dem Patienten im Gespräch mit seinem behandelnden Arzt vorgeschlagen wird und das er auswählen kann oder auch nicht.
Greco: Anthroposophische Medizin ist keine Entscheidung des „entweder/oder“. Sie ist ein „und“.
Obwohl Patienten und Ärzte in der Praxis die Erfahrung machen, dass die Anthro-Medizin funktioniert, wird sie doch von vielen mit Skepsis betrachtet.
Hat das vielleicht damit zu tun, dass es sehr schwierig ist, den salutogenetischen Impuls nachzuweisen, den die anthroposophischen Heilmittel im Körper setzen?
Greco: Es gibt drei Ebenen von Evidenz. Alle drei muss man wertschätzen: Wir haben die naturwissenschaftlich untermauerten Erkenntnisse, wir haben die therapeutische Erfahrung des Arztes, und wir haben den Patienten, der berichtet, was ihm geholfen hat. Als Hersteller anthroposophischer Arzneien ringen wir unablässig darum, eine naturwissenschaftliche Basis zu schaffen, und dazu werden viele Anstrengungen in den Firmen unternommen. Genauso tragend sind aber auch die ärztliche Erfahrung und die Patientenevidenz. Für mich ist es integrativ – wenn wir bei dem Begriff bleiben wollen –, diese drei Säulen immer wieder zu verbinden.
Dr. Fritsche: Die evidenzbasierte Medizin hat sich völlig weg entwickelt von der Idee David Sacketts. Der Pionier der beweisgestützten Medizin schreibt, dass alle drei Arten der Evidenz gleichberechtigt sind. Und das passt auch wieder gut zur Anthroposophischen Medizin, die einfach den Menschen ins Zentrum stellt. Denn jeder Mensch ist ein Einzelfall. Es hilft mir nichts, wenn ich weiß, dass in dieser oder jener Studie nachgewiesen wurde, dass 90 Prozent der Patienten von diesem oder jenem Medikament profitieren, wenn es bei mir nicht wirkt.
Dr. Schnelle: Wir haben in der Medizin also einerseits die durch kontrollierte Studien untermauerte sogenannte externe Evidenz, andererseits die interne Evidenz, die auf der Erfahrung der behandelnden Ärzte basiert. In der Anthroposophischen Medizin liegt die Stärke in der internen Evidenz und im Bereich der sogenannten Patientenpräferenz – die Menschen suchen gezielt nach einer erweiterten Medizin. Wir haben aber einen Schwachpunkt in der Studienevidenz, was oft mit der Finanzierbarkeit zusammenhängt. Oft wird uns unterstellt, wir hätten an wissenschaftlichen Untersuchungen kein Interesse, weil ja eh nichts herauskäme oder weil dann sichtbar würde, dass der Unterschied zu Placebos nicht groß sei. Doch das stimmt nicht. Es gibt einzelne gute klinische Studien – auch doppelblind und placebokontrolliert –, aber die sind noch zu selten. Solche Studien sind enorm teuer, und wir sind mittelständische Hersteller, wir haben keine öffentliche Förderung.
Hängt die Skepsis auch damit zusammen, dass Feinstofflichkeit, die bei der Wirkung der Präparate eine Rolle spielt, nicht gemessen werden kann?
Dr. Fritsche: Ich glaube, das ist ein grundsätzliches Problem. Man kann philosophische Fragen nicht mit Wiegen und Messen erklären, und das Geistige ist nun mal „feinstofflich“. Sobald ich im Bereich der Seele bin, wird es zudem immer subjektiv. Wenn ich Objektivität voraussetze, muss ich seelische Qualitäten in ein Raster pressen, um sie messen zu können. Ist man traurig, ja oder nein? Wenn ja, wie intensiv ist das Gefühl, auf einer Skala von 1 bis 5? So etwas kann ich statistisch auswerten. Aber das bringt nur bedingt das Befinden wirklich zum Ausdruck.
Dr. Schnelle: Wissenschaftlich betrachtet stellt sich mir gleichzeitig die spannende Frage: Was ist konkret der Zusatznutzen eines Arzneimittels, wenn wir diese ganzen Selbstheilungseffekte haben, das salutogenetische Potenzial? Das ist ja auch der Punkt der Kritiker, die sagen: „Eure Medizin ist gut, weil sie eine sprechende Medizin ist und weil die Pflege in den anthroposophischen Krankenhäusern unvergleichlich ist. Arzneimittel bringen keinen definierbaren Zusatznutzen.“ Dadurch sind wir natürlich ein bisschen in die Ecke gedrängt und sagen dann: „Nein, das ist für uns durchaus nicht so. Das Arzneimittel impulsiert diese salutogenetischen Kräfte ganz wesentlich.“ Heißt es dann, „könnt ihr uns das mal zeigen, am besten mit einer placebokontrollierten Studie“, müssen wir oft passen. Denn die Methodik der placebokontrollierten Studie passt nicht gut zu dem Anliegen, diese feinstofflichen Effekte nachweisen zu können.
Naturwissenschaftlicher Reduktionismus war schon zu Zeiten von Rudolf Steiner und Ita Wegman angesagt. Ihre Ideen zielten auf ein ganzheitliches Menschenbild.
Heißt das, ein anderes Forschungsdesign wäre nötig?
Greco: Auch zu diesem Thema sind wir aktiv. Ich stelle mir als Wissenschaftlerin schon die Frage, wie anthroposophisch inspiriert auch ein Forschungsdesign weiterentwickelt werden kann. Und da gibt es gerade mit Blick auf die Einheit von Körper, Seele und Geist bereits Untersuchungen, mit denen man genau an diese Fragestellungen herankommt. Wir erleben, dass auch in der akademischen
Medizin diese Dinge immer mehr Einzug halten. Es geht dort ebenfalls nicht mehr nur um das Schlüssel-Schloss-Prinzip. Dafür sind die Präparate heute zu anders geartet als noch vor 20 oder 30 Jahren.
Dr. Fritsche: Mir stellt sich darüber hinaus aber auch die Frage, ob es immer den Anspruch braucht, einen Wirkmechanismus zeigen zu können, bevor ich an eine Wirkung glaube. Was uns fehlt, sind zwar diese Einzelnachweise bei Einzelsubstanzen für eine Indikation. Aber wir sehen in den anthroposophischen Krankenhäusern, dass es den Patienten durch unsere Medizin langfristig besser geht. Auf dieser Ebene hat sie Anerkennung gefunden – übrigens auch bei den Krankenkassen, die eine anthroposophische Komplexbehandlung in der Klinik mit anthroposophischen Anwendungen und Kunsttherapien bezahlen, weil das Ergebnis überzeugt.
Dr. Schnelle: Damit kommen wir auch zu Rudolf Steiner zurück, der ja in einer Zeit lebte, die von einem Siegeszug des naturwissenschaftlichen Reduktionismus geprägt war. Mitte des 19. Jahrhunderts nahm das seinen Anfang. Steiner ist da praktisch hineingewachsen, und die von ihm geprägte Medizin war nicht als Gegenimpuls gemeint, sondern als Vervollständigung des nur auf das naturwissenschaftlich Fassbare, das Wäg- und Messbare reduzierten Menschenbilds. Was wir jetzt in der Skeptikerbewegung sehen, ist sozusagen eine Blüte dieses Reduktionismus: Was nicht im strengen Sinne naturwissenschaftlich fassbar ist, existiert nicht oder wird in den Bereich des Glaubens verwiesen oder in die Mystik der Esoterik. Diese Diffamierung gab es damals schon, sie hat sich meiner Meinung nach einfach nur noch viel stärker ausgeprägt. Insofern ist der Gründungsimpuls der Anthroposophischen Medizin heute vielleicht noch moderner als damals, weil diese Polarisierungen zugenommen haben.
Vom Rückblick auf den Gründungsimpuls der Anthroposophie durch Steiner nach vorne gedacht: Wo wird die Anthroposophische Medizin in 20 Jahren stehen?
Dr. Schnelle: Die Anthroposophische Medizin hat in den letzten 102 Jahren viel erreicht. Sie hat sich über die ganze Welt verbreitet, es gibt sie auf fünf Kontinenten in 40 Ländern. Aber trotz all dieser schönen Erfolge ist sie in Europa derzeit auch schwer unter Beschuss und im Grunde in einem Defensivmodus. Deshalb ist sowohl ein pessimistischer als auch ein optimistischer Ausblick möglich. Aus pessimistischer Sicht könnte es sein, dass anthroposophische Arzneimittel letztlich den Arzneimittelstatus verlieren und aus den Apotheken verschwinden oder nur noch als Lifestylepräparate verkauft werden dürfen. Einige unserer wichtigen Arzneien gibt es in bestimmten europäischen Ländern auch heute schon nur noch als Nahrungsergänzungsmittel, Hepatodoron zum Beispiel in Italien. Auch bei uns ist diese Tendenz vorhanden. Optimistisch betrachtet lautet meine Zukunftsperspektive aber: Das Bekenntnis zum Methodenpluralismus wird sich letztlich durchsetzen. Denn es ist unübersehbar, dass die Patienten das wollen, und darüber können sich auch Regierungen und Parlamente nicht hinwegsetzen. Damit bleibt die Anthroposophische Medizin auch weiterhin ein integrativer Bestandteil der Gesundheitsversorgung. / Das Gespräch führten
Dr. Frieder Stein und Georgia van Uffelen
Diesen Beitrag finden Sie in unserem Magazin natürlich gesund und munter 04/2023
Foto: Christine Joos