Geborgenheit fühlen: 3 essenzielle Faktoren
Ob unternehmungslustig oder zurückhaltend, ob introvertiert oder extrovertiert, ob Familienmensch oder überzeugter Single – damit es uns gut geht, müssen wir Geborgenheit fühlen. Die Suche nach diesem ganz besonderen Gefühl ist allerdings nichts für Einzelkämpfer.
In diesem Artikel:
Wie fühlt man sich geborgen?
„Jeder Mensch wird Geborgenheit unterschiedlich empfinden und Geborgenheit an unterschiedlichen Situationen, Umgebungen, Menschen, atmosphärischen Nuancen festmachen“
- Berline Pädagoge und Therapeut Dr. Udo Baer
Für manche ist ein heißes Bad das Höchste der Gefühle. Im warmen Wasser fühlen sie sich so sicher und geborgen wie im Mutterleib. Auch Alltagsrituale können Geborgenheit schenken, der allmorgendliche Kaffee zum Beispiel oder die Tasse Tee am Nachmittag. Die Wiederholung bekannter Muster gibt uns Sicherheit, etwas, worauf wir uns verlassen können. So kann schon der regelmäßige Gang zum Lieblingsbäcker das Gefühl von Vertrautheit wecken. All die geliebten kleinen Gewohnheiten stärken das Gefühl „in uns zu wohnen“. Aber sie genügen nicht allein, um Geborgenheit im umfassenden Sinne zu erfahren. Denn da wir soziale Wesen sind, sind am Geborgenheitserleben immer andere Menschen beteiligt.
Geborgenheit fühlen durch Empathie
Das Gefühl von Geborgenheit kann sich also nur dann in der Badewanne, beim Putzen oder einem anderen Ritual einstellen, wenn wir zudem gewiss sein können, dass Menschen in unserem nahen Umfeld uns wohlwollend begegnen und wir ihnen vertrauen. Deshalb kann es nicht schaden, wenn wir unsere Beziehungen einmal näher betrachten. „Beziehungen sollten wir nicht einfach als gegeben hinnehmen, schließlich haben wir immer gewisse Wahlmöglichkeiten“, erklärt der Dr. Baer. So sei es wichtig, sich gelegentlich die folgenden Fragen zu stellen:
- „Wo finde ich die ersehnte Wärme?“
- „Bei wem fühle ich mich eigentlich geschützt?“
- „Bei wem kann ich mich anlehnen, wenn ich mich gerade schwach fühle?“
Baer ist überzeugt: „Menschen, von denen wir in der Not nur einen Sack voll Ratschläge erhalten, schenken uns keine Geborgenheit und Beziehungswärme.“ Emotionale Sicherheit erfahren wir bei empathischen Menschen, die uns einfach zuhören, unser Leid akzeptieren und Schwäche annehmen können. Bildlich gesprochen sind es die Menschen, die keine Angst davor haben, mit uns in den Seelenkeller hinabzusteigen, auch wenn es dort dunkel ist, und sich neben uns setzen.
Geborgenheit fühlen durch Nähe
Ob wir uns geborgen fühlen, hängt deshalb nicht zuletzt stark von unserem eigenen Sozialverhalten ab, unserem Drang nach Kontakt, Kommunikation und unserem Sinn für Gemeinschaft. Geborgenheit sei nichts für Einzelgänger, sagt auch der Psychiater Prof. Dr. Hans Mogel. Mehr als dreißig Jahre hat der mittlerweile emeritierte Professor an der Universität Passau zum Thema „Geborgenheit“ geforscht. Mit ermutigendem Ergebnis auch für Singles: Wer allein ist und mehr Geborgenheit sucht, findet diese nicht nur bei einem Partner oder einer Partnerin, sondern auch in einer Gruppe von Menschen mit gemeinsamen Interessen. Warum ist das so? Egal ob Menschen nun gemeinsam kochen, zusammen Karten spielen, basteln oder durch die Natur streifen, sie bezögen sich dabei immer gemeinsam auf etwas Drittes, und durch eine solche Triangelbeziehung entstehe zwischenmenschliche Nähe zwischen Menschen, erklärt Dr. Udo Baer.
Dass uns dieses Verhalten quasi in die Wiege gelegt wurde, hat der US-amerikanische Verhaltensforscher Prof. Michael Tomasello herausgefunden. Seine Beobachtung: Wenn Eltern und Kind gemeinsam auf etwas Drittes zeigen, erkennt das Kind deren Absichten. Indem sich das Kind damit identifiziert, wird die Beziehung gestärkt und Bindungssicherheit entsteht. Andererseits kann uns das Gefühl, im eigenen Leben geborgen zu sein, jederzeit verloren gehen, etwa durch eine Stresserfahrung, einen Streit oder mangelnde Wertschätzung. Bekommen wir von anderen zu wenig Verständnis und Zuspruch, dann finden wir in uns selbst schwieriger Halt, fühlen uns zunehmend kraft- und energielos und entwickeln negative Emotionen wie Ärger und Missgunst.
Geborgenheit fühlen durch Vertrauen
Zum Glück können selbst Menschen, die als Kinder nur sehr selten Geborgenheit und Schutz erfahren haben, in späteren Jahren als Erwachsene durchaus noch positive Beziehungserfahrungen machen und dieses sie stärkende Lebensgefühl erleben. Im Buch „Das Wunder der Geborgenheit“ (Julius Beltz Verlag), das Dr. Udo Baer zusammen mit seiner Ehefrau, der Therapeutin Dr. Gabriele Frick-Baer, verfasst hat, berichtet das Autorenpaar von einer jungen Frau, die immer wieder Bindungen einging, die ihr nicht guttaten – bis sie dank einer Therapie bereit war, den Schmerz und die Trauer darüber, dass sie Geborgenheit nie wirklich erlebt hatte, zuzulassen. Die vertrauensvolle Beziehung zur Therapeutin schuf den Boden dafür. Irgendwann klärten sich ihr Blick und ihr Herz und sie begann allmählich, die Menschen wahrzunehmen, mit denen sie Geborgenheit leben konnte.
Es kommt also auch auf die eigene psychische Beweglichkeit an. Ein erster Schritt zur Veränderung könne es sein, so Baer, genauer hinzugucken und einmal auszuprobieren, wem man länger in die Augen schauen könne. Das könne man Regelrecht üben. Wenn wir das tun, begegnen wir früher oder später mit Sicherheit jemandem, der uns einen innigen und warmen Blick schenkt. Und schon öffnet sich einen Spalt breit die Tür zur Geborgenheit.
Das Thema Geborgenheit finden Sie in Ausgabe 06/2021 von natürlich gesund und munter.
Text: Inge Behrens
Titelbild: CC0 / Pablo Heimplatz / Unsplash