Interview: Arznei aus dem Urwald – kostbarer Schatz in Gefahr
Was indigene Heiler medizinisch nutzen, bewahren und weitergeben, wird jetzt mit modernsten Mitteln erforscht: Ethnopharmakologie ist wichtig für die ganze Menschheit, glaubt Dr. Fabien Schultz – und erklärt, warum.
Dr. Fabien Schultz
arbeitet im Fachbereich Agrarwirtschaft und Lebensmittelwissenschaften an der Hochschule Neubrandenburg. Im Masterstudium hielt er sich zum ersten Mal für neun Monate in Uganda auf, wohnte in abgelegenen Regionen ohne Strom und fließend Wasser und bekam tiefen Einblick in das Leben der indigenen Gemeinschaften. Damit die Forschung an deren Arzneistoffen auch den lokalen Heilkundigen zu Gute kommt, veranstaltet seine Gruppe Workshops mit ihnen.
Dieser Ergebnistransfer ist hier dokumentiert: https://www.youtube.com/atch?v=Snjjleg78Oo
Nur wenigen Menschen ist klar, dass rund die Hälfte aller Medikamente, die uns zur Verfügung stehen, direkt oder indirekt auf Naturstoffe wie Pflanzen, Bakterien und Pilze zurückgeht. Laut dem Medicinal Plant Names Service (MPNS) werden derzeit weltweit mindestens 34 000 Pflanzenarten in medizinisch genutzt, von denen jedoch nur ein Bruchteil bereits in einem modernen Labor untersucht worden ist. Der Wissenschaftler Dr. Fabien Schultz aus Neubrandenburg will das ändern. Sein Gebiet ist die Ethnopharmakologie, die traditionelle Anwendungen natürlicher Arzneien durch indigene Heiler untersucht. Dr. Schultz erforscht in Uganda medizinische Wirkstoffe aus Natursubstanzen und hat in seiner Extraktdatenbank die chemische Biodiversität bereits in Form von mehr als 500 einzigartigen Extrakten von mehr als 200 Heilpflanzenarten für nachfolgende Generationen archiviert. Im Gespräch erklärt der Forscher, warum dies von globaler Bedeutung ist.
Herr Dr. Schultz, Sie sind Ethnopharmakologe. Was genau machen Sie?
Fabien Schultz: Ich erforsche, wie Naturstoffe, also Pflanzen, Pilze, Mikroorganismen, Tiere und Mineralien, von indigenen Gemeinschaften zur Behandlung von Krankheiten angewendet werden. Das Wissenschaftsgebiet ist daher eine Brücke zwischen Naturwissenschaften und Medizin auf der einen Seite und Sozial- und Kulturwissenschaften auf der anderen Seite.
Sie haben häufig mit traditionellen Heilerinnen und Heilern in Uganda gesprochen.
Diese nutzen manche Pflanze für ein buntes Indikationsspektrum von Diabetes über Sichelzellanämie, Malaria und Bauchschmerzen bis hin zu Myomen. Klingt das für westlich geprägte Wissenschaftler nicht
befremdlich?
Nein. In Uganda werden – wie bei uns früher und auch oftmals noch heute – vor allem Krankheitssymptome behandelt. In jeder Pflanze sind hunderte bis tausende verschiedene Substanzen enthalten, die sowohl einzeln wie auch synergistisch wirken können. Ich habe eine große Bibliothek mit vielen Kräuterbüchern aus dem Mittelalter, auch darin finden sich etwa 30 verschiedene Einsatz- beziehungsweise Anwendungsgebiete für einzelne Pflanzen. Dazu ist leider noch viel zu wenig Forschung betrieben worden.
Auf welche Weise nutzen Sie das in Uganda erworbene Wissen?
Wir untersuchen die lokal verwendeten Naturstoffe in unserem Labor an der Hochschule Neubrandenburg auf ihre pharmakologische Wirksamkeit und Sicherheit. Dabei konzentrieren wir unsere Suche derzeit vor allem auf schmerzstillende, entzündungshemmende und antibiotische Wirkstoffe sowie auf Mittel gegen Malaria. Zudem dokumentieren wir die traditionelle Anwendung, die oft zahlreiche Generationen zurückgeht. Dies ist für zukünftige Generationen enorm wichtig – schließlich kommt es derzeit weltweit zu einem Verlust von traditionellem, kulturell und wissenschaftlich wertvollem medizinischen Wissen aus indigenen Gemeinschaften. Dieser Verlust ist ein globales Problem, das uns alle betrifft, wie sich zeigt. Denken Sie nur an die hohe Nachfrage bei neuen und effizienteren Wirkstoffen.
Suchen Sie auch nach einer Strategie zur Eindämmung der immer bedrohlicher werdenden Antibiotikaresistenzen?
Dringend sogar. Schon heute sterben laut einer aktuellen Studie aus dem Fachjournal „The Lancet“ wahrscheinlich jährlich 1,27 Millionen Menschen aufgrund von Infektionen mit Bakterien, die gegen Medikamente resistent geworden sind. Die Resistenzbildung könnten wir verhindern, wenn wir Wirkstoffe finden, die die Fähigkeit der Bakterien unterbrechen, untereinander zu kommunizieren und zusammenzuarbeiten. Das Bakterium wird somit nicht getötet, aber entwaffnet und sozusagen unschädlich gemacht. Bestimmte Wurzel- und Blattextrakte konnten in unserem Labor diese Kommunikationsfähigkeit bei resistenten Keimen außer Kraft setzen. Diese Studien in vitro, also im Reagenzglas, sind hochinteressant und müssen weiterverfolgt werden. Entsprechende Medikamente wären bahnbrechend.
Wo sehen Sie die Grenzen der Wissenschaft?
Natürlich können wir in unseren In-vitro-Screenings nicht alles abdecken, was für eine bestimmte Wirkung mitverantwortlich sein könnte. In Uganda ermutige ich alle Heilkundigen, nicht nur in die Heilkräfte ihrer pflanzlichen Mittel, sondern auch in die spirituellen Kräfte zu vertrauen. Mir ist ein gegenseitiger respektvoller Umgang extrem wichtig. Ich erkläre ihnen deshalb auch, dass ich ein Fremder bin und bleibe, der niemals ihre Heilmöglichkeiten erlernen könnte. Ich möchte mich nicht hinstellen als der evidenzbasierte Wissenschaftler, für den alles, was sich nicht nachweisen lässt, nicht existiert. Das wäre arrogant.
Wertvolles traditionelles medizinisches Wissen geht derzeit weltweit rapide verloren. Dabei wäre es für kommende Generationen so wichtig.
Sie lassen Rätselhaftes stehen …
Es gibt so vieles, was ich nicht erklären kann. Ich bin kein gläubiger Mensch, aber in der traditionellen Medizin gerade in Afrika oder in Asien muss man die ganzheitliche Anwendung in ihrer vollen Komplexität sehen. Hier spielen ganz viele Aspekte hinein, auch so etwas wie die spirituellen Angaben zur Nutzung von Pflanzen – beispielsweise die, dass böse Zaubersprüche abgewehrt werden können. Das ist in der dortigen Kultur sehr präsent und deswegen muss ich das möglichst akkurat aufschreiben. Bloß weil ich anderer Meinung bin, habe ich kein Recht, etwas zu verfälschen.
Sie untersuchen die Selbstmedikation wilder Schimpansen und Berggorillas. Wie kamen Sie darauf?
Wir haben beobachet, dass die Primaten in bestimmten Situationen eine besondere Pflanze nutzen und dass sie sich bestimmte Termiten- und Ameisenarten auf Wunden drücken oder die Tiere essen. Daraufhin befragten wir die Heilerinnen und Heiler, ob sie diese Naturstoffe auch kennen und nutzen. Es war für uns sofort klar, dass wir unter Umständen von unseren engen Verwandten aus dem Tierreich bei der Entdeckung neuer Wirkstoffe lernen können. Wir wissen noch kaum etwas darüber, wie und ob sie eine Art Selbstmedikation betreiben. Und wenn ja, ob sie das instinktiv tun oder von ihren Müttern beigebracht bekommen. Jedenfalls haben sie wohl eine Weisheit, die wir nicht haben.
Inzwischen mehren sich Belege für die Annahme, dass auch Primaten sich selbst medikamentieren.
Können Sie uns ein Beispiel dafür geben?
Wir haben beobachtet, dass einer der Schimpansen, der Schnupfen hatte, 15 Kilometer gelaufen ist – weit weg von der Region, in der er normalerweise lebt – und von einer Pflanze gegessen hat, die nach unseren Erkenntnissen sonst nirgends in der Umgebung wächst. Nicht nur das machte mich hellhörig, sondern auch die Tatsache, dass er ausschließlich die Blattstiele einnahm und sie zuvor sorgfältig von Stängel und Blatt trennte. Solche Geschichten zu einzelnen Individuen und Pflanzen, Pilzen und Insekten könnten wir in großer Zahl dokumentieren. Aus mehr als 70 noch nicht oder kaum untersuchten Spezies aus vier Regenwäldern in Uganda konnten wir bereits mehr als 200 einzigartige Probenextrakte herstellen und in unserem Labor untersuchen. Erste Publikationen hierzu werden demnächst folgen.
Wie verhindern Sie, das ursprüngliche Verhalten der Wildtiere durch Ihre Forschungen zu beeinflussen?
Das ist immer die Schwierigkeit bei der Zoopharmakognosie, also der Erforschung der tierischen Selbstmedikation. Ich arbeite in Uganda und in der Republik Kongo mit Primatologen an fünf Regenwaldstandorten zusammen. Sie und die Menschen, die ihnen assistieren, sind quasi jeden Tag mit den Gorillas und Schimpansen zusammen und beobachten die Tiere in freier Wildbahn sehr genau, halten dabei ausreichend Abstand und führen minutiös Protokoll.
Und Sie können erkennen, ob ein Tier sich selbst behandelt?
Tatsächlich braucht es viel Erfahrung, um zu unterscheiden, ob ein Affe eine bestimmte Pflanze frisst, weil er hungrig ist oder weil er sich nicht wohl fühlt und krank ist. Knabbert er wirklich an einer Pflanze, die sonst eher nicht auf seinem Speiseplan steht? Ein Beispiel: Ein Schimpanse – wir haben ihn Tom genannt – war nach einer Verletzung am Fuß an einer Blutvergiftung gestorben. In den Tagen vor seinem Tod fraß er jedoch große Mengen einer Pflanze, die bisher kein einziges Tier aus der etwa 40 Individuen umfassenden Schimpansen-Familie je zu sich genommen hatte. Wir haben uns gefragt: Hat Tom diese Pflanze gegen seine Schmerzen gegessen? Oder weil er verzweifelt war und sein Leben retten wollte?
Konnten Sie eine Antwort auf diese Fragen finden?
Wahrscheinlich schon. In unseren In-vitro-Laboruntersuchungen in Deutschland haben wir herausgefunden, dass diese Pflanze schmerzstillende, fiebersenkende und entzündungshemmende Eigenschaften aufweist. Diese Wirkung war in unseren Versuchen deutlich stärker und auch selektiver als beispielsweise bei unserer Kontrollprobe mit der Reinsubstanz Aspirin. Vielleicht kann das, was die Berggorillas und Schimpansen nutzen, also auch für den Menschen nützlich sein. Vielleicht sind wir, indem wir den Affen und deren Wissen folgen, der Lösung mancher medizinischer Probleme näher, als wir denken.
Im Jahr 2014 trat das Nagoya-Protokoll in Kraft, ein völkerrechtliches Übereinkommen, das den Erhalt der Biodiversität, ihre nachhaltige Nutzung, die Entscheidungsmacht der Ursprungsländer sowie eine gerechte Verteilung sichern soll. Werden bei der Konservierung des traditionellen Wissens diese Regelungen zuverlässig eingehalten?
Bei all unseren Forschungsbemühungen, die nicht in Deutschland stattfinden, schließen wir mit den lokalen und nationalen Regierungen im Zielland Abkommen für die Zusammenarbeit und holen Forschungs- und Probenexportgenehmigungen ein. So soll nicht nur gewährleistet werden, dass das Wissen über verschiedene Pflanzen der indigenen Völker den ursprünglichen Wissensträgern gebührt, sondern auch, dass die Biodiversität, die man in einem Land findet, weiterhin dem jeweiligen Land und dem dortigen Volk gehört.
Seit Jahrtausenden genutzte Heilpflanzen könnten weiterhelfen, wenn die moderne Medizin nicht mehr weiterweiß.
Was bedeutet das konkret?
Hier geht es vor allem um den Zugang zu Ressourcen und den finanziellen Vorteilsausgleich. Man kann theoretisch eben nicht mehr einfach, wie Firmen es früher gemacht haben, nach Afrika in den Regenwald gehen, eine Pflanze mitnehmen, einen Wirkstoff darin finden und dann ein Patent anmelden, auf dessen Basis Millionen- oder Milliarden-Gewinne erzielt werden.
Ist der finanzielle Vorteilsausgleich, den das Nagoya- Protokoll sichern soll, denn ausreichend?
Was in diesem Protokoll leider nur oberflächlich angesprochen und nicht ausreichend definiert wurde, ist der nichtfinanzielle Vorteilsausgleich. Forschende kehren leider nur selten nach Veröffentlichungen von Laborstudien zurück zu den Heilkundigen, die ihr ursprünglich ethnomedizinisches Wissen für die Forschung bereitgestellt haben. Wir machen es anders und planen in unseren Forschungsprojekten in Uganda stets eine Art Workshop mit ein, zu dem wir alle Heiler und Heilerinnen, die uns geholfen haben, einladen, um sie über die Ergebnisse der Laborforschung zu unterrichten und um diese gemeinschaftlich zu diskutieren. Die Publikationen über die Forschungsergebnisse machen das Wissen zwar für jeden zugänglich, doch die Heilkundigen können mit wissenschaftlichen Artikeln voller Fachwörter in der Regel nicht viel anfangen. Das bringt sie oftmals leider in die Situation, dass sie ihr Wissen weitergegeben haben, ohne eine einbeziehende Gegenleistung zu bekommen. Mit unserer Methode des Ergebnistransfers möchten wir hier mit gutem Beispiel vorangehen.
Wie wirkt sich die Zerstörung des Regenwalds auf all das gesammelte Wissen aus?
Das ist eine schwierige Frage. In vielen Regionen sind die Regenwälder sehr klein geworden, und es wird weiterhin abgeholzt. Viele Pflanzen werden somit immer seltener. Überall in Uganda sehe ich leider solche Verluste. Heilkundige, die älter als 60 Jahre alt sind, kennen noch Heilpflanzen, die heute in ihrer Umgebung längst nicht mehr wachsen und von denen 20 Jahre jüngere Heilende oft gar keine Kenntnis mehr haben.
Ist der Gedanke, dass die natürlichen Quellen unserer Heilmittel versiegen könnten, nicht äußerst beunruhigend?
Zwei von fünf Pflanzenarten sind laut dem aktuellen Bericht „State of the World‘s Plants and Fungi“ vom Aussterben bedroht. Wir dürfen diesem Schwund der Artenvielfalt nicht tatenlos zusehen, denn Heilpflanzen, mit denen traditionelle Heilende ebenso wie tierische Primaten jahrtausendelange Erfahrungen gesammelt haben, könnten uns eines Tages an entscheidenden Stellen helfen, an denen die moderne Medizin nicht mehr weiterweiß. / Das Gespräch führte Doro Kammerer
Fotos: Inken Dworak-Schultz