Interview: Hilft uns die Wissenschaft wirklich weiter?
Durchaus, sagt der Epidemiologe und Komplexitätsforscher Dirk Brockmann. Aber nur, wenn wir verstehen, wie sie zu Erkenntnissen kommt – und wenn Forschung mehr über den Tellerrand schaut.
Prof. Dr. Dirk Brockmann
Geboren 1969 in Göttingen, studierte und lehrte Dirk Brockmann in Deutschland und den USA. Seit 2013 lehrt er an der Humboldt-Universität in Berlin und arbeitet zudem als Projektleiter für epidemische Modellierung für das Robert-Koch-Institut. 2021 erschien sein Buch „Im Wald vor lauter Bäumen – Unsere komplexe Welt besser verstehen“ (dtv).
Die Corona-Pandemie hat uns einiges über unser Verständnis von Wissenschaft und Forschung klar gemacht. Während sich die einen allzu konkrete Handlungsanweisungen erhoffen, lehnen andere schlichtweg die Studienergebnisse ab, die ihre persönliche Haltung nicht bestätigen. Prof. Dr. Dirk Brockmann, Physiker und Komplexitätsforscher am Institut für Theoretische Biologie an der Berliner Humboldt-Universität, wirbt dafür, den Blick mehr auf die Verflochtenheit unserer Welt zu richten. Er ist „Modellierer“, macht also mit Hilfe mathematischer Formeln, verschiedener Methoden sowie Computersimulationen Aussagen darüber, wie sich beispielsweise eine ansteckende Krankheit unter bestimmten Bedingungen ausbreiten könnte. Diese Modellierung von Infektionskrankheiten hat in den USA, Großbritannien, den Niederlanden oder Frankreich eine lange Tradition. In Deutschland ist sie im Wesentlichen erst durch die Pandemie bekannt geworden.
Herr Prof. Dr. Brockmann, sind Modellierungen so etwas wie Vorhersagen?
Dirk Brockmann: Unsere Modelle nennen wir ungern so. Modellierer fragen nach den Mechanismen, es geht uns um kausale Zusammenhänge, etwa zwischen Mobilitätsnetzwerken und der räumlichen Ausbreitung von Infektionskrankheiten. So berücksichtigen die Modelle dabei das gesamte, weltweite Flugverkehrsnetz, also den Flugverkehr von etwa drei Milliarden Passagieren pro Jahr zwischen mehr als 4000 Flughäfen. Unsere Analysen liefern wichtige Erkenntnisse, auch für politische Entscheidungen, wie diese: Wenn jemand zehn Tage hintereinander zehn verschiedene Leute trifft, hat das einen geringeren Effekt auf die Infektionsdynamik, als wenn diese Person neun Tage lang niemanden trifft, sich aber an einem Tag unter hundert Menschen aufhält. Laut Grundschulmathematik müsste das aufs Gleiche rauslaufen, das tut es aber nicht. Die Kontaktnetzwerkstrukturen spielen eine Rolle.
"Im Kollektiv machen wir Menschen viele Dinge, die Fische, Ameisen oder Stare nicht anders machen."
Prof. Dr. Dirk Brockmann
In Ihrem Buch „Im Wald vor lauter Bäumen“ schildern Sie das Phänomen des Schwarmverhaltens.
Wer schon einmal gesehen hat, wie 500 000 Stare in einer Art Formation fliegen und fluide Muster in den Himmel zaubern, fragt sich: Wie kann das gehen? Es ist ja nicht so, dass ein Individuum den Ton angibt und sagt „Wir fliegen jetzt mal alle nach links“. Inzwischen wissen wir, dass es sich um ein kollektives Verhalten handelt, das im Wesentlichen durch drei Elemente bestimmt wird: Kein Vogel möchte sich zu weit vom Schwarm entfernen, gleichzeitig weicht jeder den anderen aus, damit es keine Kollision gibt. Und das dritte Element, und das ist das wesentliche: Die einzelnen Vögel wollen in etwa in die gleiche Richtung fliegen wie die unmittelbaren Nachbarn.
Gilt das auch für das menschliche Verhalten?
Im Kollektiv machen wir viele Dinge, die Stare, Fische oder Ameisen nicht anders machen. Wir haben den Eindruck, Entscheidungen zu treffen – aber eigentlich passiert das meiste automatisch. Wir Menschen sind der festen Überzeugung, in kognitiver Hinsicht am weitesten entwickelt zu sein. Als Homo sapiens beharren wir regelrecht darauf, dass wir uns von anderen Spezies unterscheiden und etwas Besonderes sind. Und so glauben wir in anmaßender Weise, dass für uns andere Regeln gelten. Komplexe Systeme funktionieren aber alle ähnlich, ob in der Natur oder in der Gesellschaft. Um die Pandemie gut zu überstehen und erst recht, um den Klimawandel zu begreifen, würde es helfen, uns als Organismen zu verstehen, die in die Biosphäre eingebettet sind.
"Vollkommene Vorhersagbarkeit wird es niemals geben ..."
Prof. Dr. Dirk Brockmann
In den Modellierungen für den Klimawandel denkt man bis zum Jahr 2100. Wie weit in die Zukunft können Ihre Pandemie-Modelle denn schauen?
Das Modell einer Infektionskrankheit reicht nicht sehr weit in die Zukunft, da wir das individuelle Verhalten der Menschen nur zu einem gewissen Maß vorhersagen können. Vollkommene Vorhersagbarkeit wird es niemals geben, selbst wenn wir wirklich alles über unser menschliches Verhalten wüssten. Modellierungen haben aber auch nicht zum Ziel, exakt zu beantworten, wo wir zu einem bestimmten Zeitpunkt stehen. Leider hat sich in unserer Gesellschaft aber die Erwartung festgesetzt, dass es immer und sofort auf alles eine Antwort gibt. Wir Wissenschaftler haben in der Kommunikation oft zu wenig deutlich gemacht haben, wie unsicher wir selbst waren beziehungsweise immer wieder sind.
Wenn Wissenschaftler von „Hypothese“ oder „ersten Hinweisen“ sprechen, müssten Laien wohl auch genauer lesen oder zuhören.
Sicherlich, die Sache ist vielschichtig. Wir Menschen wollen gern konkrete Tipps haben und Empfehlungen, dies oder das helfe gegen dieses und jenes. Trotzdem wünsche ich mir, dass achtsamer mit Informationen umgegangen wird, sowohl von denjenigen, die sie herausgeben, als auch von denen, die sie bekommen.
Gehört es nicht zum Selbstverständnis von Wissenschaft, auf drängende Fragen eine Antwort zu haben?
Durchaus. Dieses Selbstverständnis hat eine lange Tradition: Als die ersten Landkarten der Welt gezeichnet worden sind, gab es noch viele weiße Flecken, also Gebiete, die noch nicht bereist und demnach nicht vermessen worden waren. Diese weißen Flecken konnte man nicht leer lassen, da wurden Seeungeheuer reingezeichnet. Das war natürlich reine Fantasie, aber man glaubte, eine Antwort liefern zu müssen. Die ersten wissenschaftlichen Karten haben diese Gebiete leer gelassen. Und es war ein Riesenschritt zu sagen: Wir wissen es nicht. In einer so beunruhigenden Lage wie einer Pandemie wagen es vielleicht besonders wenige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die weißen Flecken klar zu benennen. Allerdings fördert es Misstrauen, wenn nicht differenziert wird zwischen dem, was durch Fakten belegt ist, und dem, was allein intuitiv und auf Basis von Hintergrundwissen bewertet wird.
"Grenzen der wissenschaftlichen Disziplinen vorsätzlich überschreiten."
Prof. Dr. Dirk Brockmann
Sollte in der Schule mehr darüber gesprochen werden, was Forschung ausmacht?
Ich glaube, in der Wissensvermittlung wird etwas fundamental falsch gemacht. In der Schule ist Physik eines der langweiligsten Fächer, die man sich vorstellen kann. Ich habe es als Schüler selbst durchlitten. Ich weiß nicht, was spannend daran sein soll, eine Kugel eine schiefe Ebene herunterkullern zu lassen oder Blitze durch irgendwelche Geräte auszulösen. Physik ist etwas ganz, ganz anderes! Sollte ich mal vor Schülern sitzen – sagen wir der siebten, achten oder neunten Klasse – würde ich Fragen stellen: „Woher kommt das Universum? Was ist Raum? Was ist Zeit?“. Das sind die fundamentalen Dinge. Es kann doch nicht darum gehen, Schülern den Rechenweg „beizubringen“ zur Frage, wie weit ein Ball fliegt, den ich werfe – das interessiert kein Kind! Niemand wollte das wissen, auch Einstein oder Newton nicht. Die wollten wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Das ist die Magie der Physik. Schon vor den Siebzigerjahren haben deshalb Wissenschaftler versucht, Bereiche wie Biologie oder Sozialwissenschaften mit Methoden aus der Physik zu betrachten. Ihnen ging es nicht primär darum, ihre Expertise in ihrem Fachbereich zu vertiefen, sondern sie wollten Verbindungen finden zwischen verschiedenen Phänomenen.
Weil Wissenschaft in einer vernetzten Welt anders gedacht werden muss?
Richtig. Denken Sie an das Schwarmverhalten: Wenn man hier Gesetzmäßigkeiten findet, findet man die vielleicht auch in gesellschaftlichen Phänomenen? Denn worin ähneln sich ein Baum, unser Gefäßsystem und das Straßennetz. Es handelt sich um unterschiedliche Dinge, aber das Organisationsprinzip ist das gleiche. Bei einem Baum muss eine große Oberfläche generiert werden durch viel Blattwerk, aber möglichst wenig Material, weil der Baum sonst zu schwer wird. Die Gefäße müssen möglichst viel Körper erreichen mit möglichst wenig Material. Auch das Straßennetz soll möglichst viele Punkte erreichen, ohne zu viel Land zu asphaltieren. Optimierungsprinzipien sind universell und werden in ganz unterschiedlichen Bereichen wirksam.
Wir müssen also auch in der Wissenschaft mehr über den Tellerrand schauen?
Wir kommen vielfach tatsächlich nur weiter, wenn wir Grenzen der wissenschaftlichen Disziplinen vorsätzlich überschreiten, um Verbindungen überhaupt sehen zu können. Das ist mehr als interdisziplinäres Arbeiten, es bedeutet antidisziplinär zu arbeiten.
Wir brauchen aber auch die Experten, die sich schwerpunktmäßig mit einer Sache beschäftigen.
Na klar, man braucht beides. Das eine ist nicht wertvoller als das andere. Komplementär zu denken bedeutet ja, grenzüberschreitend zu forschen. Selbst die Kritiker müssen anerkennen, dass aus der Komplexitätsforschung einige revolutionäre Arbeiten kommen.
Das erinnert an die Hologenom-Evolutionstheorie, wonach jeder Mensch, jedes Tier und jede Pflanze als Gemeinschaftswesen mit all seinen symbiotischen Mikroben zu betrachten ist.
Definitiv. Von ökologischen Netzwerken können wir lernen, dass sie robust und stabil sind, gerade weil kooperative Elemente die Dynamik dominieren und weil sie nicht auf Wettstreit und ewig andauerndes Wachstum setzen. Es gibt clevere Prinzipien in der Natur, die wir auf unser zwischenmenschliches Dasein übersetzen sollten, wenn wir überleben wollen.
Das Gespräch führte Doro Kammerer
Diesen Beitrag finden Sie in Ausgabe 04/2022 von natürlich gesund und munter.
Foto: © Monika Keiler; Komposition: Michaela Mayländer