Interview: Warum wir unser Denken „erden“ müssen
Ist uns eigentlich bewusst, wie sehr wir die Natur brauchen? Dass sie zu wertvoll ist, um sie zu zerstören? Die Natur ist kein Verhandlungspartner. Wir sind von ihr abhängig, nicht sie von uns. Ein Gespräch über gelebte Verantwortung und Ökohumanismus.
Prof. Dr. Pierre L. Ibisch
Seit 2004 lehrt Pierre Leonhard Ibisch (Jg. 1967) als Professor für Nature Conservation an der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde. Er hat sich unter anderem als Kritiker der konventionellen Forstwirtschaft profiliert.
Menschengemachte – „anthropogene“ – Einflüsse auf den Planeten sind spätestens seit der industriellen Revolution maßgeblich verantwortlich für den sich dramatisch beschleunigenden Verlust von Arten und ganzer Ökosysteme, für die bedrohlichen Klimaveränderungen und das Auftauchen immer neuer gefährlicher Viren. Der Biologe und Naturschutzwissenschaftler Pierre Ibisch hat bei internationalen Projekten und seinen Forschungsaufenthalten in aller Welt beobachtet, welche Konsequenzen daraus abgeleitet werden müssten. Welche Möglichkeiten haben wir noch, unsere Rolle innerhalb eines gesunden Ökosystems neu auszurichten? Ibisch ist davon überzeugt, dass nur ein grundsätzlich anderes Denken uns nachhaltig helfen wird. Zusammen mit Jörg Sommer, dem Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Umweltstiftung, hat er dazu in einem „Ökohumanistischen Manifest“ (Hirzel Verlag) eine Ethik für das Anthropozän entworfen.
Herr Prof. Dr. Ibisch, sind wir auf dem Weg, unsere eigenen Lebensgrundlagen zu zerstören?
Pierre Ibisch: Offenbar müssen wir die Wirkmächtigkeit von uns Menschen überhaupt erst einmal erfassen. Dass wir vom Anthropozän sprechen, also von einem Erdzeitalter, in dem die Menschheit den dominanten geologischen, biologischen und atmosphärischen Einfluss hat, sollte uns erschaudern lassen. Dass wir den ganzen Planeten verändern können, bedeutet eben nicht, dass wir ihn auch beherrschen. Im Gegenteil. Wir sind komplett abhängig vom globalen Ökosystem, vom Zusammenspiel aller Arten: dem Haushalt der Natur. Das verstehen wir bisher nur in Ansätzen. Die Natur schreibt nicht vor, dass vernunftbegabte Wesen von ihrer Vernunft auch Gebrauch machen müssen. Es gibt immer eine Alternative – das Aussterben der Art. Es wird höchste Zeit, dass wir erkennen, wie klein und unbedeutend wir für den Planeten Erde letztlich sind.
Ist uns Menschen denn nicht immer etwas eingefallen, wenn es kritisch wurde?
Das stimmt. In kürzester Zeit können Menschen, aber auch ganze Gesellschaften ein „neues Normal“ definieren. Diese Eigenschaft ist prähistorisch einzigartig gewesen. Sie hat es möglich gemacht, dass die Spezies Mensch ihr angestammtes Habitat verließ, um sich in einem Wimpernschlag der Evolution auf andere Kontinente auszubreiten. Der Mensch hat sich überall anpassen können. Das ist ein Teil unserer Erfolgsgeschichte.
Könnte uns das auch jetzt aus der Krise führen?
Diese Flexibilität kann auch eine Falle sein, weil wir uns allzu eilfertig an Veränderungen anpassen, die uns auf Dauer umbringen können. Wir Bewohner der wohlhabenden Nationen importieren beispielsweise eine Vielfalt von Nahrungsmitteln oder kaufen exotische Tiere fürs heimische Terrarium. Allerdings ist unser Wohlstand erkauft, teils durch Verarmung der Natur, teils durch Verarmung von Menschen. Das zu verdrängen, wird immer schwieriger werden, wenn wir die planetaren Grenzen des Wachstums weiterhin so drastisch überschreiten. Wir haben über Jahrzehnte Schulden gemacht und die Augen vor der Frage verschlossen, wann wir die zurückzahlen müssen und wie hoch sie ausfallen werden. Jetzt führt kein Weg mehr an ethischen Betrachtungen vorbei und am Hinterfragen unserer Menschlichkeit.
Kann nicht die Digitalisierung die notwendigen Veränderungen weltweit voranbringen?
Theoretisch durchaus. Derzeit passiert aber meist etwas anderes: Die vielfältigen Informationen, die wir im Netz bekommen, der Austausch in den sozialen Medien und mit anderen Menschen nehmen uns die Zeit, uns als Teil der Natur zu fühlen. Dieses Abdriften im Netz befördert die Natur- und Ökosystemvergessenheit. Es wird ernsthaft über Flüge zum Mars nachgedacht. Wir können uns sogar vorstellen, unser Sonnensystem zu verlassen – was aber noch lange nicht heißt, dass wir das tatsächlich hinbekommen. All das ist ein Treiber des erdvergessenen Denkens.
Es geschieht doch schon eine Menge: Kohleausstieg, Ausbau regenerativer Energien, Grenzwerte für Pestizide, Artenschutzprogramme ...
Hier gibt es auch viele naive Vorschläge. Zu denen gehört in meinen Augen auch die Vorstellung, die anstehenden Herausforderungen mit technologischen Verfahren lösen zu können. Auch der so genannte Ausgleich zwischen Ökonomie und Ökologie spiegelt nicht den aktuellen Wissensstand wider, wie wir heute Nachhaltigkeit denken. Wer verstanden hat, dass die gesamte Menschheit vom globalen Ökosystem abhängt, wird nicht länger den Eindruck erwecken, hier sei irgendetwas verhandelbar. Die Natur verhandelt nicht. Wir müssen uns angewöhnen, uns im Lebensstil wie auch in Politik und Wirtschaft einem ökologischen Primat zu unterwerfen.
Was meinen Sie mit „ökologischem Primat“?
Bisher leidet das Gros der Abkommen, Aktionsprogramme und Zielerklärungen zum Schutz der Biodiversität, der Meere, der Insekten, der Böden, des Regenwaldes und so weiter nicht nur an Unverbindlichkeit, sondern auch am Denken in anthropozentrischen Allmachtskategorien. Wir können die Natur weder schützen noch pflegen noch reparieren. Wir müssen der Natur nicht zu ihrem Recht verhelfen, sie setzt es selbst durch.
Wollen Sie damit sagen, dass es schon zu spät ist?
So meine ich das nicht. Das Insektensterben zum Beispiel setzt sich unvermindert fort, trotz zahlreicher ambitionierter Ansätze. Wir sollten uns schleunigst auf die Rettung unserer eigenen Spezies konzentrieren. Das heißt, die Art, wie wir in den Ökosystemen leben und was wir von ihnen erwarten, muss sich ändern. Noch läuft es hauptsächlich so, wie ich es am Beispiel der Forstwirtschaft erklären möchte: Wir definieren, welches Holz zu welchem Preis wir gern hätten, und das soll ein Wald dann herstellen. Aber es muss genau andersrum gehen: Zuerst müssen wir dafür sorgen, dass ein Wald gesund wachsen kann, um dann zu schauen, was wir für uns in nachhaltiger Weise nutzen können. Der Wald wird uns schon sagen, welches Holz in welcher Menge geerntet werden kann. Geduld, Mäßigung und Demut sind gefragt.
"In meinen Augen ist Menschsein und Menschlichkeit ohne das Wissen
um die Eingebundenheit in die Natur nicht komplett."Prof. Dr. Pierre L. Ibisch
Viele halten derartige Aussagen für alarmistisch.
Homo sapiens ist zugleich auch Homo ignorans. Dass das Risiko des Aussterbens so eklatant groß ist, darf ich als Wissenschaftler nicht verheimlichen. Auch für mich ist es eine besondere Herausforderung, junge Menschen mit solchen harten Prognosen zu konfrontieren. Allerdings ist es nun fast zum Allgemeinwissen geworden, dass das Weiterleben der Menschheit auf der Kippe steht. Deshalb ist es so wichtig, positive Botschaften zu formulieren.
Wie ist Ihre Botschaft?
Humanismus ist die Weltanschauung, die Menschlichkeit und Menschenwürde in den Mittelpunkt stellt. Die Botschaft des Ökohumanismus lautet: Wir Menschen müssen uns nicht für das verachten, was wir aus diesem Planeten gemacht haben, wir müssen uns nicht von der Erde wegwünschen, weil wir vor einem Scherbenhaufen stehen. Im Gegenteil! Gerade jetzt sollten wir in den Blick nehmen, wie großartig es ist, was uns Menschen ausmacht. Dass wir befähigt sind, über uns selbst und unsere Zukunft nachzudenken und zu lernen. So gesehen ist es völlig legitim, das Wohlergehen als Mensch und als Menschheit in den Mittelpunkt des Interesses zu stellen.
Aber dieses Denken führt uns an den Abgrund …
Weil wir übersehen haben, wie die wahre Hierarchie aussieht: zuerst das Ökosystem, dann der Mensch. Wenn wir uns nicht um das kümmern, was mit uns und um uns lebt, werden wir untergehen. Schauen Sie, wir wissen inzwischen, wie sehr wir davon abhängen, dass es den Mikroorganismen, die in unserem Darm und auf unserer Haut leben, gut geht. Wir selbst sind mehr Ökosystem als wir gedacht haben. Das könnte ein Ausgangspunkt sein, den Übergang von einem anthropozentrischen zu einem ökosystembasierten Weltbild zu schaffen. Vor dem Hintergrund unseres heutigen Denkens sieht es so aus, als könnten wir Menschen gar nicht anders als unsere Umwelt auszubeuten und zu zerstören, damit es uns gut geht. Wenn wir aber versuchen, uns unsere Erdvergessenheit bewusst zu machen und uns als Teil der Natur zu erleben, kann das sehr heilsam sein.
Naturnah wohnen und leben, natürliche Heilweisen nutzen – sind das nicht schon gute Ansätze zur Überwindung der Erdvergessenheit?
Im ‚geerdeten Denken‛ ist zentral das Bewusstsein für unsere Fähigkeit, nicht nur für andere Menschen gut zu sein, sondern auch für andere Organismen. Wir sind befähigt, das Leben an sich zu lieben, was sich im Wort Biophilie, also der Liebe zum Leben und zum Lebendigen, ausdrückt. Die Erfahrung von Gleichheit mit anderen Organismen, Respekt vor Ressourcen, vor Kreisläufen, vor dem Leben hilft uns, achtungsvoll in den Ökosystemen leben.
Müssen wir unseren Blick auf die Natur erweitern?
Wir sollten sie nicht als Kulisse wahrnehmen, sondern auf ihren Zustand schauen. Ökohumanismus heißt, dass wir uns bei unseren Handlungen, bei Eingriffen in die Landschaft oder beim Gebaren der Wirtschaft fragen: Ist das eigentlich wirklich gut für die Natur, ist das wirklich gut für uns Menschen?
Und wenn die Antwort ‚Nein‘ lautet, dürften wir nicht zur Tagesordnung übergehen …
Genau, aber wir müssen vermeiden, uns schuldig und ohnmächtig zu fühlen. Wir haben keine persönliche Schuld am Zustand der Natur, aber Wissen bedeutet Verantwortung. Aus dieser Verantwortung können wir Sinn und Kraft schöpfen. In meinen Augen ist Menschsein und Menschlichkeit ohne das Wissen um die Eingebundenheit in die Natur nicht komplett. Erst dann kann ein neues Verhältnis der Menschen untereinander entstehen, das auf Zugehörigkeit, Teilhabe und Gemeinsinn setzt.
Das Gespräch führte Doro Kammerer
Diesen Beitrag finden Sie in Ausgabe 02/2022 von natürlich gesund und munter.
Foto: Deutsche Umweltstiftung; Komposition: Michaela Mayländer