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„Wie können seelische Wunden heilen?“

Weltweit verursachen Kriege, Krisen und Katastrophen ebenso seelische wie physische Schäden. Aber auch individuelle Erfahrungen können traumatisierend wirken. Der Traumatherapeut Martin Straube erklärt, wo er bei seiner Arbeit mit Betroffenen ansetzt.

Martin Straube

Der anthroposophische Arzt bietet Behandlungen von Traumata nicht nur in seiner Praxis in Bochum an. Zusammen mit seiner Frau, der Traumapädagogin Minka Straube, leistet er bei Aufenthalten im Nahen Osten, in der Ukraine und anderen Krisenherden konkrete Traumaarbeit, bei Kindern wie bei Erwachsenen. Martin und Minka Straube sind Mitgründer des Internationalen Instituts für Notfall- und Traumapädagogik in Karlsruhe (www.iintp.info). Vor kurzem haben sie ihr Grundlagenwerk „Trauma-Sprechstunde“ (Verlag Urachhaus) veröffentlicht.

Trauma – lange Zeit verstand man darunter eine körperliche Verletzung: eine Verbrennung, einen Bruch oder eine Verrenkung („Schleudertrauma“). Vor einigen Jahrzehnten, spätestens aber mit den multi­plen ­Krisen unserer Zeit, hat sich der Begriff als Synonym für unterschiedliche seelische Verletzungen etabliert. Zu Recht, sagt der Arzt und Traumatherapeut Martin Straube, auch wenn er die Verwendung mittlerweile für inflationär hält. Auf der Basis seines psychosomatischen Schwerpunkts und seiner Behandlung von Patienten mit HIV-Infektion und Aids hat er sich zum Trauma­experten weitergebildet und verfügt heute über eine langjährige Praxiserfahrung. Er sagt: Wir brauchen mehr Bewusstsein für das Thema, um seelische Traumata richtig zu diagnostizieren, und mehr therapeutische Ausbildung, um Menschen mit Traumafolgestörungen besser helfen zu können.

natürlich gesund und munter: Herr Straube, der Begriff „Trauma“ scheint allgegenwärtig. Sind das gute Zeiten für einen Traumatherapeuten?

Martin Straube: Als ich in der Nähe von Bremen wohnte, gab es jeden Montag im „Weser-Kurier“ zu lesen, „Bremen hat wieder ein Trauma erlebt“. Warum? Werder Bremen hatte eben halt wieder verloren, das kam fast jede Woche vor. Das ist natürlich Unfug, das heißt, wir benutzen das Wort viel zu häufig für Dinge, auf die es gar nicht zutrifft. Und andererseits werden wirkliche Traumata und die daraus resultierenden Traumafolgestörungen oft gar nicht erkannt.

Was heißt Trauma denn tatsächlich?

Das Wort „Trauma“ stammt aus dem Griechischen und heißt Verletzung oder Wunde. Wenn Sie sich in den Finger geschnitten haben, reinigen Sie die Wunde und tun ein Pflaster drauf, bis der Schnitt geheilt ist. So ist es auch mit vielen seelischen Verletzungen. Wenn jemand Sie missachtet oder beleidigt hat, dann reinigen Sie sich, indem Sie vielleicht im Stillen vor sich hin fluchen oder den Kontakt zu diesem Menschen eine Weile meiden, bis Sie sich wieder vertragen. Aber so, wie es schwere Verletzungen körperlicher Art gibt, aus denen eine lebensgefährliche Blutvergiftung entstehen kann, gibt es auch seelische Wunden, die gefährlich weiter schwelen. So sind von den amerikanischen Soldaten, die am Vietnamkrieg teilgenommen haben, nach dem Krieg mehr durch Suizid gestorben als während des Krieges durch kriegerische Handlung.

Das Weiterschwelen ist die Traumafolgestörung?

Ja, denn nicht jeder, der etwas Traumatisches erlebt, entwickelt später PTBS, die Posttraumatische Belastungsstörung. Eine große Untersuchung hat ergeben, dass 60 Prozent der Bevölkerung in den USA traumatische Erlebnisse hatten, aber nur acht Prozent von PTBS betroffen sind. Ein Trauma ist nicht dasselbe wie eine Traumafolgestörung.

Welche Erlebnisse können ein Trauma auslösen?

Die Klassiker sind Naturkatastrophen wie Erdbeben, Stürme, Flut, außerdem Kriege, Unfälle, personalisierte Gewalt, Folter und sexueller Missbrauch. Wobei beim „man made disaster“, wenn andere Menschen mir etwas antun, die Wahrscheinlichkeit wesentlich größer ist als beim „natural disaster“, dass Traumafolgestörungen entstehen. Außerdem unterscheiden wir Typen von Traumata. Es gibt das eine schlimme Ereignis: ein Überfall, ein schwerer Unfall, eine Vergewaltigung. Beim Typ-II-Trauma wiederholt sich das oder dauert länger an, also zum Beispiel mehrfacher Missbrauch oder wiederkehrende Misshandlungen. Schließlich haben wir als drittes das kumulative Trauma, das wir bei immer mehr Kindern beobachten können: Lauter Dinge, die für sich betrachtet noch gar nicht so schlimm sind, bringen irgendwann das Fass zum Überlaufen. Liebesentzug, emotionale Vernachlässigung und so weiter. Dann sind die Kinder auffällig in der Schule, werden deshalb von den Lehrern diskriminiert, werden gemobbt von den Schulkameraden. Und das sehen wir heute in jeder Schulklasse, in jeder Kindergartengruppe.

Wovon hängt es ab, ob etwas traumatisch wird?

Was ein traumatisches Erlebnis ist, sei es durch eine Naturkatastrophe oder durch etwas, das ein anderer Mensch Ihnen antut, hängt von Ihren subjektiven Bewältigungsstrategien ab. Auch von Ihrer Lebensgeschichte, vom Alter, von der sozialen Schicht, von den Erfahrungen, die Sie bis dahin gemacht haben. Welche Resilienzfaktoren haben Sie? Was ist Ihre Grundanschauung, auch zur eigenen Biografie? Wenn die Belastung durch die bedrohliche Situation größer ist als das, was Sie auszuhalten in der Lage sind, dann entsteht das traumatische Erlebnis, das, so die klassische Definition des „Lehrbuchs der Psychotraumatologie“, mit „Gefühlen der Hilflosigkeit, der schutzlosen Preisgabe“ einhergeht und eine „dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis“ bewirkt. Es hängt übrigens auch von der Kultur ab, in der Sie leben. Als wir in Nepal waren nach dem großen Erdbeben, haben wir praktisch keine traumatisierten Menschen vorgefunden; die haben das als Kismet, als Schicksal hingenommen.

Spielt das Geschlecht auch eine Rolle?

Ja. Dass es mehr Frauen mit Traumafolgestörungen gibt als Männer, liegt daran, dass die schlimmsten Traumaarten in Friedenszeiten sexuelle Übergriffe sind, und das erleben Frauen öfter.

Wie definiert sich eine Traumafolgestörung?

Zunächst darin, dass das bedrohliche Erlebnis immer wieder auftaucht, als Traum in der Nacht oder als Bilder, die immer wieder hochkommen. Weil dieses Wiedererleben so schlimm ist, versuchen die Betroffenen, alles zu vermeiden, die Orte, die Menschen, Situationen, die sie daran erinnern könnten. Das kann das Leben außerordentlich einschränken, und das verändert auch die Kognition, das Denken. Manche fühlen sich schuldig, manche können sich kaum oder gar nicht erinnern. Die Stimmung ist negativ und das Erregungsniveau verändert – entweder sind sie übererregt, wittern überall Gefahr, oder sie sind untererregt, also wie gelähmt. Und all das hält länger als einen Monat an.

Was sind die Auswirkungen?

Ein PTBS gilt als Türöffner für eine ganze Reihe zusätzlicher Erkrankungen, von Depressionen und dissoziativen Störungen über Bindungsstörungen und sexuelle Probleme bis hin zu Suchtverhalten, aggressivem und selbstverletzendem Verhalten.

Gibt es auch körperliche Folgen?

Das wird derzeit stark erforscht. Zum Beispiel hat man das beobachtet an den Kindern, die man im Zweiten Weltkrieg in Finnland aufs Land verschickt und an andere Familien gegeben hat. Diese Kinder waren bis zu vier Jahre von ihren Eltern getrennt. Und als diese Kinder zwischen 50 und 60 Jahren alt waren, gab es unter ihnen 200 Prozent mehr Herzinfarkte, 140 Prozent mehr Übergewicht und Diabetes Typ 2, dazu mehr Immunstörungen, psychosomatische Erkrankungen, auch Tumordiagnosen. Und je früher in der Biografie ein Trauma stattgefunden hat, desto häufiger sehen wir in der zweiten Lebenshälfte oder im letzten Lebensdrittel schwere körperliche Erkrankungen.

Was genau passiert dabei im Gehirn?

Alles, was wir wahrnehmen, muss durch das Zwischenhirn, bevor es in die Großhirnrinde kommt, wo wir dann über diese Erlebnisse nachdenken können. Die Pförtner im Zwischenhirn sind zwei Regionen, die normalerweise gut zusammenarbeiten, die Amygdala und der Hippocampus. Im Hippocampus sind unsere Erfahrungen und Erinnerungen abrufbar, der ist sozusagen das kalte Gedächtnis. Die Amygdala ist das heiße Gedächtnis. Bei Beobachtungen, die der Hippocampus als nicht normal einordnet, schlägt sie Alarm, und das bewirkt, dass der Zugang zur Großhirnrinde blockiert ist und alle Impulse nicht dorthin, sondern zu unseren Reflexen zurückgehen. Das kann lebensrettend sein, weil wir schnell auf Bedrohungen reagieren können und nicht erst nachdenken müssen. Bei einem Trauma haben wir nicht einmal mehr Reflexe. Das Zwischenhirn wird abgeschaltet. In der Amygdala, im heißen Gedächtnis, kreisen die Gefühle, die Bilder, die Gerüche, aber im Hippocampus kommen sie nicht an, wir können sie nicht in das historische, das kalte Gedächtnis einordnen. Dieser Vorgang ist blockiert, deswegen findet das Ganze keine Ruhe in uns.

Wie sieht das konkret aus?

Nehmen wir das Beispiel einer Frau, die als Kind eine Reihe von Übergriffen erlebt hat: Immer am Freitagabend, wenn die Mutter nicht da war, hat der Vater zu viel getrunken und ist ins Kinderzimmer gekommen. Da ist im heißen Gedächtnis ein Geruch, die Alkoholfahne des Vaters, der Gedanke, es wird wehtun, das Entsetzen, die Angst und das Schuldgefühl. Aber im kalten Gedächtnis ist vielleicht gar nichts. Und es reicht, dass Jahre später jemand sie eines Abends anspricht, und der hat auch eine Alkoholfahne – und es ist alles wieder da. Und dieses Bild taucht in der Intensität auf, wie wenn jetzt das Schreckliche passieren würde, weil das kalte Gedächtnis nicht sagen kann, das war aber eine ganz andere Situation, das war vor vielen Jahren, du warst in einem anderen Alter, da konntest du dich nicht wehren.

Warum machen sich Traumata oft erst 20, 30 Jahre später bemerkbar, gerade bei sexuellem Missbrauch?

Das eine ist, dass durch diese Blockade mitunter im Gedächtnis davon gar nichts angekommen ist. Aber ich habe auch den Eindruck, dass wir eine unglaubliche Weisheit in uns haben, dass unser Unterbewusstsein so lange wartet, bis wir die nötige Reife haben, darauf schauen zu können. Leider erleben die Frauen, denen das so gegangen ist, häufig ein ganz anderes Trauma, dass man ihnen nämlich nicht glaubt. Was dann zusätzlich traumatisieren kann.

Was kann eine Traumatherapie dann leisten?

Wir versuchen, was damals gewesen ist, so genau und so umfangreich wie möglich zu rekonstruieren, die Dinge beschreiben zu können, sie minutiös in einen zeitlichen Ablauf zu bringen. Doch bevor wir damit angefangen, geht es darum, eine Situation zu schaffen, in der der anderer Mensch Vertrauen aufbauen kann, in der er sich sicher fühlt. Diese Wirrnis der Emotion durch Regulationsmaßnahmen zu dämpfen, Selbstbewusstsein und Selbstwirksamkeit zu schaffen, sodass jemand tatsächlich weiß: Wenn ich hier sitze in diesem Raum, diesem Therapeuten gegenüber, kann mir nichts passieren. Von hier aus, von diesem sicheren Punkt aus, schaue ich jetzt zurück auf das Ereignis.

Wie vollzieht sich diese Rekonstruktion?

Indem man eine Geschichte entwickelt. Die darf ganz subjektiv sein, unsere Erinnerung ist ja auch poetisch. Man fängt mit einem positiven Erlebnis in der Biografie an, dann kommt das schlimme Erlebnis, und dann kommt wieder ein positives. So erkennt man seine Entwicklungsphasen und merkt, es ist ja gar nicht immer nur alles schlimm. Natürlich wird das dann wieder Gefühle aufwühlen, aber das ist dann auch in Ordnung. Das ist ein Prozess, der dauert.

Haben Sie ein Beispiel aus ihrer Praxis?

Ich habe mit einem afghanischen Flüchtling gearbeitet, der als 13-Jähriger nach vielen Monaten voller Todesangst und Gewalterlebnisse allein in Deutschland ankam, in München, und von einem kräftigen, vollbärtigen bayerischen Polizisten begrüßt wurde mit: „Ja mei, seins herzlich willkommen.“ Das war das erste positive Wort, das er seit Jahren gehört hatte. Wir haben in jeder Sitzung jeweils ein neues Erlebnis angeschaut, die positiven wie die negativen. Ich habe das aufgenommen, abgetippt und ihm zugeschickt, sodass er es bis zum nächsten Termin mehrmals gelesen hatte. Und allein, indem man das mehrmals liest, wirkt das desensibilisierend, das Maß der Belastung nimmt von Mal zu Mal ein Stück ab. Und dann, nach einem halben Jahr, sagte er: „Ich habe noch Narben, aber sie tun nicht mehr weh.“

Besteht bei dieser Rekonstruktion nicht die Gefahr einer Re-Traumatisierung?

Es gibt Kontraindikationen. Hat jemand eine schwere Traumatisierung und gleichzeitig eine Psychose, dann geht es nicht, auch nicht bei Suizidgefährdung. Und wir erreichen sicherlich bei nicht jedem eine solche Stabilisierung, dass wir ihm das zumuten können. Aber wenn es möglich ist, ist das der Goldstandard.

Was brauchen Traumatisierte am nötigsten?

Wärme, Zuwendung und Wertschätzung, unser Verständnis – egal wie dissozial sich jemand verhält. Wir nennen es das Konzept des guten Grundes: Es gibt einen guten Grund, dass du dich so verhältst. Du entscheidest, wo du mitmachen möchtest. Und du machst so viel wie möglich selbst. Als 2015 die Flüchtlinge kamen, wurde in meinem Dorf ein Haus für sie gebaut, und beim Richtfest rief eine Frau: „Wer hat eine Nähmaschine, wer kann Gardinen nähen?“ Das ist nicht falsch gedacht, aber wir haben dann gesagt, „lasst die doch erst ankommen, geht mit den Frauen in den Stoffladen, und dann leiht ihr ihnen eure Nähmaschinen, und wenn sie damit nicht umgehen können, bringt ihr es ihnen bei.“ Je mehr Selbstwirksamkeit wir erfahren, desto mehr Selbstwirksamkeits-Erfahrung haben wir und desto mehr Selbstwirksamkeits-Erwartung haben wir. Die Vietnam-Veteranen, die sich umgebracht haben, die hatten keine Selbstwirksamkeits-Erwartung mehr.

Was ist außerdem wichtig?

Dem Traumatisierten wieder freudvolle Erfahrungen zu ermöglichen. Und ihm zuzuhören. Shakespeare beschreibt das im Macbeth, „gib Worte deinem Schmerz / Gram, der nicht spricht, / belastet das belad‘ne Herz / bis es bricht.“ Allein das Aussprechen bedeutet, ich habe es vor mir, es sitzt mir nicht mehr im Nacken. Ich sage immer als erstes: „Ich weiß, du hast etwas Schlimmes erlebt, wenn du es nicht erzählen möchtest, musst du nicht, aber wenn du erzählen willst, hast du jederzeit mein offenes Ohr.“ Und dann ist es wichtig, dem Betreffenden zu vermitteln: „Nicht du bist verkehrt, sondern was du erlebt hast, war verkehrt. Und deine Symptome, dieses Wiedererleben, die Vermeidung, der Erregungszustand, die Einschränkung von Kognition und Stimmung, sind normale Reaktionen auf ein unnormales Ereignis.“ Entscheidend ist immer die Beziehung, die man zu dem Traumatisierten hat. Dass er sich aufgefangen, verstanden, wertgeschätzt, sicher fühlt, dass er ein offenes Ohr findet. Und wenn die Beziehung da ist, kann man sogar mitunter mit falschen Methoden noch Gutes erreichen, aber wenn die Beziehung nicht da ist, kann man mit den besten Methoden gar nichts erreichen.

Können Traumata vererbt werden?

Durchaus, auf mehreren Wegen. Wenn wir ein Trauma erleiden, passiert in unserem Erbgut etwas: Einzelne Gene werden blockiert, die wir benötigen, um mit Stress besser umgehen zu können, und das wird den Kindern vererbt. Das ist gut erforscht. Außerdem können viele Menschen, die traumatisiert sind, darüber nicht sprechen, und dann erlebt eine Familie bei Mutter oder Vater eine Leerstelle. Und auch, wenn ich Symptome wie Aggressivität oder Depressionen habe, interagiere ich anders mit den Kindern, die das wiederum weitergeben. Und dann gibt es noch eine vierte Variante, die wir bis heute nicht erklären können: dass Menschen nachts die Bilder träumen, die ihre Großeltern etwa im Zweiten Weltkrieg erlebt haben, obwohl die Großeltern nie drüber gesprochen haben. In der Traumatherapie machen wir ja alles Mögliche, um in der Beziehung zum Therapeuten Stabilität aufzubauen. Schon dadurch kann sich so viel lösen, dass auf diese Weise weniger Belastung weitergegeben wird.

Woran erkennt man, ob Kinder traumatisiert sind?

Das sehen Sie beispielsweise am Wiedererleben: im Traum oder indem sie es im Spiel re-inszenieren oder es malen. Sie sehen es an der Vermeidung, dass also Kinder bestimmte Orte nicht aufsuchen, bei manchen Themen die Ohren zuhalten oder wegrennen. Über- oder Untererregung fällt auf, eine veränderte Kognition natürlich auch und schlechte Stimmung. Beim Kinderarzt wird dann oft Autismus, Depression oder Aufmerksamkeitsdefizit diagnostiziert. Ganz häufig erlebe ich bei Patienten, dass sie schon fünf, sechs oder mehr als zehn Diagnosen haben, die sich alle erübrigen, wenn man das Ganze als Traumafolge verstehen kann.

Wie finde ich den richtigen Traumatherapeuten? Und wie unterscheide ich einen vernünftigen Therapeuten von selbsternannten Coaches, die Trauma, Burnout und Depression nicht auseinanderhalten können?

Wenn es um die fachliche Qualifikation geht, gibt es die Therapeutensuche auf der Homepage der DGPT, der Deutschen Gesellschaft für Psychotraumatologie. Aber der fachlich Kompetenteste ist nicht automatisch der, zu dem ich Vertrauen aufbauen kann. Zudem herrscht ein ziemlicher Mangel. In Hamburg haben geschätzt acht Prozent der zwei Millionen Einwohner eine Traumafolgestörung, denen stehen nur 20 Therapeuten gegenüber. Die Kliniken, die das behandeln, haben lange Wartezeiten. Deswegen ist es so wichtig, dass wir das Thema Trauma immer mehr ins Bewusstsein heben und immer mehr Menschen ausbilden, die suffizient damit umgehen können. Wir haben deshalb das Institut für Traumapädagogik in Karlsruhe gegründet, zur Zeit bilden wir sie auch in Polen und in der Ukraine aus.

Was zeichnet Menschen aus, die ein Trauma überwunden haben?

Nehmen wir den Dichter Rainer Maria Rilke, der eine ganz schwere, eine traumatische Kindheit hatte. Als er später in Paris lebte, hat er in diesem Panther im Käfig, im Jardin des Plantes, das gesehen und im Gedicht beschrieben, was er selber als Erlebnis kannte, die Lähmung, die Erstarrung. Aber er hat diese Dinge formuliert, in Bilder gekleidet, sie zu Kunst gemacht. Er hat sich selber helfen können, hat das Trauma gelöst. Das ist immer möglich nach einem Trauma: dass diese Erschütterung, die unsere Konstitution erfährt, uns auch offener und lockerer und empfänglicher macht. Wir sehen bei vielen Künstlern – Cezanne, Picasso, Monet – dass sie im Grunde genommen ihre künstlerische Fähigkeit auch dieser Erschütterung verdanken. Wir finden diese Lockerheit, Empfänglichkeit und Empfindlichkeit bei vielen Menschen in sozialen Berufen, die vielleicht nicht ganz, aber teilweise ihr Trauma gelöst haben. Das rechtfertigt das Trauma nicht, denn viele sterben daran. Aber die, die es geschafft haben, damit umzugehen, sind ganz großartige Menschen.

/ Das Gespräch führte Julia Schröder