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Wie viel Klimaschutz brauchen wir, damit wir gesund bleiben?

Der Klimawandel ist die größte Bedrohung für die menschliche Gesundheit. Es ist höchste Zeit, Verantwortung zu übernehmen, sagt der Arzt und Klimaaktivist Dr. Martin Herrmann. Und er meint damit nicht nur politische und gesellschaftliche Institutionen. Jeder und jede Einzelne von uns ist gefragt.

Dr. med. Martin Herrmann

Der ehemalige Arzt, Mitgründer und Vorsitzende von KLUG, der Deutschen Allianz für Klimawandel und Gesundheit, begleitet seit vielen Jahren professionell Transformationsprozesse und berät Bund, Länder, Kommunen und Akteure innerhalb des Gesundheitssystems zu Klimaschutz und Klimafolgenanpassung. Seit 2019 ist Dr. Herrmann Mitglied der AG Klima der Bundesärztekammer und Mitgründer des Aktionsbündnis Hitzeschutz Berlin.

Im Mai wurde in Heidelberg der europäische Lancet Countdown Bericht zu Klimawandel und Gesundheit 2024 vorgestellt. In diesem Übersichtswerk, das von 70 Forschenden aus ganz Europa verfasst wurde, steht es schwarz auf weiß: Die Temperaturen in Europa steigen doppelt so schnell wie im globalen Durchschnitt, und ohne ambitionierten Klimaschutz werden sich die negativen Auswirkungen des Klimawandels weiter verschärfen und Milliarden von Menschen treffen. Extremwetterereignisse nehmen zu, Dürreperioden und Waldbrände werden häufiger, Zecken und Tigermücken sowie temperaturempfindliche Krankheitserreger wie das West-Nil-Virus breiten sich immer weiter in den Norden aus. Dr. med. Martin Herrmann, Vorsitzender der von ihm 2017 mitgegründeten Deutschen Allianz Klimawandel und Gesundheit (KLUG), erklärt die Zusammenhänge und zeigt Möglichkeiten auf, wie jeder Einzelne ins Handeln kommen kann – zum Wohl der eigenen Gesundheit und zum Wohl des Planeten Erde.

natürlich gesund und munter: Herr Dr. Herrmann, was denken Sie, wenn Sie das Lied von Rudi Carrell hören: „Wann wird‘s mal wieder richtig Sommer“?

Dr. Martin Herrmann: Dieses Lied repräsentiert den Wunsch vieler Menschen nach einer richtig warmen Zeit, in der wir das Draußensein genießen können. Es zeigt uns aber auch das Dilemma, das wir haben: die im Liedtext erwähnten „40 Grad im Schatten“. Sie sind ­eine tödliche Gefahr, auch wenn das bei uns weitest­gehend ignoriert wird, bis in die Politik hinein. Mit dem Hitzeaktionstag in diesem Jahr am 6. Juni wollten wir von der Deutschen Allianz Klimawandel und Gesundheit aufzeigen, welchen Einfluss Hitze auf unsere Gesundheit haben kann und wie man sich an heißen Tagen am besten schützt. Hitzeschutz sehen wir dabei als Gemeinschaftsaufgabe, bei der Bund, Länder, Kommunen und Vertreter aus allen Bereichen der Gesellschaft gemeinsam dazu beitragen, Deutschland hitzeresilient zu machen. Denn es wird immer häufiger zu längeren und intensiveren Hitzeperioden kommen.

Warum gilt Hitze als Hauptrisiko in der Klimakrise?

Hitze ist ein Schlüsselsymptom – sie zeigt die Auswirkungen der Klimaveränderung am stärksten. Die Wahrscheinlichkeit, in einer Hitzewelle einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall zu bekommen, ist größer als bei moderatem Wetter. Schon jetzt kostet die Hitze viele Menschenleben: Während der Hitzewelle im Jahr 2003 gab es in Deutschland rund 9500 Hitzetote, dazu kamen mehrere Hunderttausend mit schwersten Symptomen. Bei einer deutschlandweiten Hitzewelle kann man davon ausgehen, dass 10 Millionen Menschen in ihrer Arbeitsfähigkeit massiv eingeschränkt sind. Damit ist auch unsere Wirtschaftskraft gefährdet.

Woher weiß man, ob ein Todesfall durch Hitze verursacht wurde?

Die Epidemiologen haben statistische Methoden, um zu erfassen, wie Hitzephasen mit Übersterblichkeit einhergehen, auch wenn die bisher kommunizierten Zahlen des Robert Koch-Instituts eher zu niedrig sind. Stirbt jemand an einem Hitzschlag, ist es eindeutig. Diese Eindeutigkeit gibt es aber oft nicht. Häufig äußern sich Hitzeprobleme durch andere akute Erkrankungen.

Haben Sie dafür ein Beispiel?

Eine Studie aus Augsburg hat im Juni gezeigt, wie stark nächtliche Hitzeereignisse die Schlaganfallrate erhöhen. Gab es im Großraum Augsburg zwischen 2006 bis 2012 jährlich zwei zusätzliche Schlaganfälle infolge nächtlicher Hitzeereignisse, waren es zwischen 2013 bis 2020 bereits 33 pro Jahr. Ischämische Schlaganfälle – die häufigste Art des Schlaganfalls – sind während der Hitzewellen nicht nur häufiger, sie verlaufen auch häufiger tödlich. Eine weitere hitzebedingte neurologische Komplikation ist das sogenannte Delir, ein vor allem im Alter häufig vorkommender Verwirrtheitszustand. Viele Senioren trinken zu wenig, gerade auch an heißen Tagen. Mitunter mit schwerwiegenden Folgen, wenn etwa Stürze zu Knochenbrüchen führen.

Das Risiko hitzebedingter Gesundheitsprobleme ist also für ältere Menschen besonders hoch?

Ja, aber nicht nur für diese. Es ist auch für Menschen, die draußen arbeiten oder Sport treiben und für Kinder und Schwangere sehr hoch. Gefährlich ist Hitze aber auch für Menschen, die nicht wissen, dass sie eine Vorerkrankung haben. Sie denken oft: Hitze kann gefährlich werden. Aber nicht für mich. Ich bin doch fit.

Keinen Sport zu treiben oder gar nicht mehr ins Freie zu gehen, kann aber nicht die Lösung sein ...

Wir müssen alle miteinander flexibler werden, auch in den Sportvereinen und Schulen, und eben auch keine Bundesjugendspiele mehr machen, wenn eine Hitzewarnung vorliegt. Sport oder Spaziergänge kann man auch in den frühen Morgenstunden und am Abend machen und dafür Gebiete bevorzugen, in denen es kühler ist, um einen Fluss herum oder im schattigen Wald.

Neben Maßnahmen gegen Hitzerisiken, wo sehen Sie weitere Faktoren beim Thema Klimawandel und Gesundheit, die jeder Einzelne und die Gesellschaft beeinflussen können?

Eine Ernährung im Sinne von Planetary Health ist besonders wichtig, also pflanzenbasiert und mit weniger Fleisch, mit weniger Emissionen aus der Tierhaltung, weniger Flächenverbrauch in der Landwirtschaft und mehr Biodiversität auch in den Böden. Ernährung ist nur dann gesund, wenn sie auch klimaneutral und gut für die Umwelt ist.

Es geht Ihnen also um das Gesamtsystem?

Genau, deswegen auch Planetary Health. So wie in der Medizin die Organsysteme zwar einzeln betrachtet werden, der Arzt aber auch Wechselwirkungen im Blick haben muss und wie sie über Blut und Lymphe miteinander verbunden sind, genau so ist es mit den Themen Biodiversität und Klima. Man kann sie getrennt betrachten, muss aber auch immer sehen, wie sie aufeinander wirken, und abwägen.

Was kann ich als Einzelner dazu beitragen? Außer, in diesem Sinn bewusster zu essen?  

Im Prinzip ist es ganz einfach. Es geht darum, zu erkennen, dass die Art, wie wir leben, wie wir uns ernähren, wie wir Wirtschaft betreiben, viele Anteile hat, die schlecht für uns sind. Sie verursachen Nebenwirkungen, die jetzt auf uns zurückfallen. Bis vor etwa zehn Jahren hat man das noch weitgehend ignoriert. Inzwischen ist aber zum Glück eine Zeit gekommen, dass man merkt: So können wir nicht weiter handeln. Denn letztlich geht es um die Bewohnbarkeit unseres Planeten, um die gesunde Umwelt und darum, die Schädigungen, die schon eingetreten sind und die noch kommen werden, einzugrenzen. Wenn ich erkannt habe, was auf dem Spiel steht – gerade für die junge Generation, die sich ihr ganzes Leben lang mit diesen zusätzlichen Gefährdungen auseinandersetzen muss –, dann kann ich als Bürger Verantwortung übernehmen.

Was heißt das konkret?

Ich kann aus meiner Konsumhaltung herausgehen und nachhaltiger leben, also meinen ökologischen Fußabdruck reduzieren. Noch wichtiger ist aus meiner Sicht aber der ökologische Handabdruck – Hand im Sinne von handeln. Es geht darum, die Rahmenbedingungen zu verändern und dazu beizutragen, nicht nur die eigenen Umweltauswirkungen zu verringern, sondern auch die anderer Personen. Ich kann mich bemühen, die Themen Planetary Health, Klima, Natur, Biodiversität in den Verantwortungsbereichen zu integrieren, die ich sowieso im Leben habe – nicht nur im privaten, sondern auch im beruflichen Kontext, in meinem Team, als Lehrerin, im Betriebsrat, bei meiner Arbeit im Krankenhaus. Ein Ansatz wäre, über die Bedeutung der Planetary Health zu sprechen und zu überlegen, wie und was man gemeinsam dazu beitragen kann.

Es geht also darum, im sozialen Kontext aktiv zu werden?

Ja. Wir sind soziale Wesen, auch wenn es besonders in den letzten zehn Jahren zu einer Überbetonung des Individuellen gekommen ist. Eine negative Folge dieser Entwicklung ist, dass viele denken, es bringe nichts, wenn nur ein Einzelner etwas macht, solange sich die anderen nicht ändern.

Heißt diese Haltung, den Klimawandel zu negieren?

Nein, die wenigsten Menschen negieren den Klimawandel, das wissen wir aus Befragungen. Die meisten sagen, ja er ist ein großes und ein wichtiges Thema, da müsste man was machen. Dann überwiegt eine eher resignative Haltung: Ich kann ja eh nichts erreichen, deshalb muss ich auch nicht anfangen, mein Leben umzustellen. Das ist, als hätte ich eine schwere Krankheit, tue aber immer so, als wäre da nichts. Dann wird es nicht nur für mich, sondern auch für alle um mich herum immer anstrengender. Wenn ich aber aufhöre, mir etwas vorzulügen und die Herausforderungen annehme, werden viele positive Energien frei. Damit werden wir zwar nicht alles schaffen, was notwendig wäre, aber wir können viel mehr schaffen, als wir im Moment tun.

Was kann dabei helfen, ins Tun zu kommen?

Ich muss mir vergegenwärtigen, was ich davon habe, wenn ich zum Beispiel weniger Auto fahre und dazu beitrage, dass die Städte grüner werden. Ich bekomme sofort ein besseres Gefühl. Denn wenn eine Stadt von Fußgängern und Fahrradfahrern belebt ist, wird sie sicherer. Oder denken Sie nur an Schüler, die nicht mit dem Auto zur Schule kutschiert werden, sondern organisiert gemeinsam dahin gehen. Sie bewegen sich mehr und kommen nicht direkt vom Stressfeld Schule ins Stressfeld Familie, wenn sie 15 Minuten nach Hause trödeln und unterwegs noch ein bisschen Unsinn machen. So sind sie auf allen Ebenen entspannter.

Bringt es Ihrer Erfahrung nach etwas, mit der Politik zu reden?

Ja, denn im Moment überwiegt in der Politik die Meinung, dass die Bevölkerung zwar die Notwendigkeit sieht, sich mit dem Klimawandel auseinanderzusetzen, aber dass die Menschen nicht bereit sind, ihr Leben umzustellen und sich einzuschränken. Aber das stimmt nicht. Die Menschen schränken sich ein, wenn etwas auf dem Spiel steht, was direkt mit ihrem Leben zu tun hat. Selbst dann, wenn es eine Zumutung ist, das zu tun. Haben Sie eine schwere Behandlung bei einer Krebsdiagnose oder bei einem Herzinfarkt, dann wissen Sie, es kommt eine schwere Zeit auf Sie zu, und das Leben wird vielleicht nicht mehr sein wie zuvor. Beim Klimawandel aber glaubt die Politik, wir Bürger könnten nur zumutungsfrei in die nächste Phase gehen.

Es möchte sich halt niemand in seiner Freiheit einschränken lassen ...

Das ist einfach falsch gedacht, denn in unserem Leben hängen alle wichtigen Bereiche mit Einschränkungen oder Zumutungen zusammen. Kinder zu bekommen und großzuziehen ist schön, aber auch eine große Einschränkung der eigenen Freiheit. Familie ist wunderbar, aber manchmal eben auch eine Zumutung. Die Arbeit ist toll und herausfordernd, aber zwischendurch möchte man am liebsten davonlaufen. Auch Sport zu treiben oder eine Sprache zu erlernen, braucht Disziplin und Durchhaltevermögen, um die unweigerlich kommenden Durststrecken durchzustehen. Und ausgerechnet beim Umgang mit dem Klimawandel soll alles so fröhlich weitergehen wie bisher und möglichst nirgendwo wehtun. Das ist doch völlig verdreht.

Ihre Deutsche Allianz Klimawandel und Gesundheit (KLUG) hat es sich zur Aufgabe gemacht, auch das Gesundheitswesen klimafreundlicher zu machen. Warum ist das so wichtig?

Das Ziel ist nicht Klimafreundlichkeit, sondern Klimaneutralität. Die Naturheilkunde und auch die Therapieberufe der sprechenden Medizin wie die Physiotherapie sind ja sehr ressourcenarm. Aber denken Sie mal an die Intensivmedizin oder die Chirurgie! Energiesparen im Krankenhaus ist zwar schon seit einigen Jahren auf der Agenda, aber Nachhaltigkeit geht weit über Energiesparen hinaus, zumal die Emissionen eines Krankenhauses nur zu zehn Prozent aus dem Energieverbrauch stammen. Es geht auch um den Einkauf für die Mahlzeiten, darum, wie ein Gebäude gebaut wird, um Materialverbrauch oder auch um Überbehandlung. An all diesen Hebeln kann man ansetzen.

Sind Sie deshalb Klimaaktivist geworden?

Ich habe mich schon immer für Umwelt- und Klima­themen interessiert und mich bereits in meinem Medizinstudium mit Alternativen beschäftigt, auch mit politischen und sozialen Dimensionen. Danach habe ich zwei Jahre in der Psychosomatik gearbeitet und festgestellt, welche herausragende Rolle die Kommunikation spielt und dass ich ein gewisses Talent dazu habe, Themen so anzuschneiden, dass sich die Menschen dafür öffnen. Ich habe daraufhin ein kleines Institut gegründet und verschiedenste Auftraggeber bei Transformationsprojekten unterstützt. 2014 wurde mir dann bewusst: Wir fahren gegen die Wand und ich muss einen Weg finden, das, was ich kann und gelernt habe, einzubringen. Schlussendlich hat dies dann zur Gründung  der Deutschen Allianz Klimawandel und Gesundheit, geführt. Das Besondere hier ist die Anbindung an die Wissenschaftsorganisationen, mit denen wir kooperieren und Zugänge haben und schaffen. Das wissenschaftlich erworbene Wissen zum Klimawandel und seinen Folgen als Grundlage zu nehmen und ins Handeln zu kommen. Das ist mein Ziel.

Was treibt sie an?

Einerseits natürlich der Wunsch, die Welt auch für meine Kinder und Enkelkinder zu retten. Andererseits aber auch die Erfahrung, wie großartig es ist, gemeinsam zu handeln sowie die Freude, miteinander etwas zu schaffen. Die Transformationsbewegung wird so zu einer Bewegung der Befreiung, hin zu dem, was für die Menschen wirklich wichtig ist. Dabei entstehen sehr große Möglichkeitspotenziale. Wie schon Hannah Arendt sagte, die mich in meinem Denken und für meine Arbeit sehr beeinflusst hat: „Wenn Menschen zusammenkommen, muss man mit Wundern rechnen.“ / Das Gespräch führte Georgia van Uffelen

Diesen Beitrag lesen Sie in unserem Magazin natürlich gesund und munter 05/2024

 

Foto: Ariane Hagl