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Wie wirken Psyche und Immunsystem zusammen?

Wenn wir krank sind, fühlen wir uns schlecht. Aber es kann auch umgekehrt sein: Wir werden krank, weil wir uns schlecht fühlen. Der Psychoneuroimmunologe Prof. Dr. Christian Schubert erforscht diesen komplexen Zusammenhang – mit erstaunlichen Ergebnissen.

Prof. Christian Schubert

Der gebürtige Münchner studierte Medizin und Psychologie und absolvierte eine Ausbildung zum Psychotherapeuten. Seit 1995 hat er das Labor für Psychoneuroimmunologie an der Universitätsklinik für Medizinische Psychologie in Innsbruck aufgebaut und leitet seit 2005 die Arbeitsgruppe für Psychoneuro­immunologie des Deutschen Kollegiums für Psychosomatische Medizin. Um den Zusammenhang von Psyche und Immunsystem zu erforschen, hat er ein spezielles Studiendesign entwickelt, die integrierte Einzelfallstudie. Gerade ist sein Buch erschienen: „Gesundheitselixier Beziehung – das faszinierende Wechselspiel von Bindung, sozialer Verbundenheit und Immunsystem“.

Dass seelisches Wohlbefinden und körperliche Gesundheit eng zusammenhängen, hat wohl jeder schon am eigenen Leib erfahren. Aber wie genau beeinflussen  Psyche, Nervensystem und Immunsystem einander? Die Psychoneuroimmunologie untersucht dieses Wechselspiel. Prof. Dr. Christian Schubert hat erforscht, wie ungeheuer stark seelische Prozesse und zwischenmenschliche Beziehungen die Funktion des Immunsystems beeinflussen – wie beispielsweise eine gute Bindung in der frühen Kindheit das Risiko für Allergien und Autoimmunerkrankungen vermindert.

Herr Professor Dr. Schubert, was verbindet die Psyche mit dem Immunsystem?

Christian Schubert: Beide sind massiv miteinander verwoben. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen: Psyche und Immunsystem sind eigentlich eins. Es sind verschiedene Ausdrucksmöglichkeiten unserer Existenz.Wir haben hier in Innsbruck ein Forschungsdesign entwickelt, mit dem das Wechselspiel zwischen den beiden im Alltagsleben sehr genau untersucht werden kann. Unter anderem konnten wir zeigen: wenn sich die Stimmung verschlechterte, stieg im Gegenzug der Wert ­eines wichtigen immunologischen Botenstoffs an, der die Entzündungsaktivität hinunterregelt. Das ließ wiederum nach ungefähr ein, zwei Tagen die Stimmung wieder ansteigen. Psyche und Immunsystem regulieren sich somit gegenseitig.

Was ist dabei übergeordnet – Psyche oder Immunsystem?

Unseren Beobachtungen zufolge ist die Stimmung normalerweise übergeordnet und reguliert zunächst die Entzündung. Und dann kommt es rückwirkend zu einer Veränderung der Stimmung. Es gibt aber auch den gegenläufigen Weg: Entzündliche Prozesse im Körper können depressive Stimmung und schlechtes Befinden auslösen. Es kommt zum sogenannten Sickness Behaviour. Das Immunsystem sendet proentzündliche Botenstoffe aus, und diese bewirken im Gehirn eine entsprechende Erlebens- und Verhaltensanpassung, damit genügend Energie für den Abwehrprozess bereitgestellt wird.Wer sich krank fühlt, der bleibt im Bett. Das kennt jeder von einer schweren Erkältung. Man fühlt sich aber auch krank, wenn man unter einer chronisch-entzündlichen Erkrankung leidet oder einen ungesunden Lebensstil pflegt. Wenn ich jeden Abend Chips esse, mich dabei kaum bewege, können Entzündungsprozesse begünstigt werden, die auf mein Gehirn wirken und eine somatische, also eine vom Körper ausgehende Erschöpfungsreaktion auslösen. Doch man darf nicht übersehen: So einem ungesunden Verhalten gehen oft belastende psychosoziale Umstände, also Stressoren, voraus!

Und das untersucht die Psychoneuroimmunologie?

Genau das lässt sich durch die üblichen Untersuchungsmethoden der Psychoneuroimmunologie oftmals gar nicht nachweisen. Wenn man den Menschen aus seiner sozialen Wirklichkeit herausnimmt und mit ihm ein kontrolliertes Experiment im Labor durchführt, erforscht man meiner Meinung nach eine Scheinrealität. Die wahre Realität zeigt sich nur dort, wo man den Menschen in seinem gelebten Leben, also unter realistischen Alltagsbedingungen, untersucht. Geht man dieser Aufgabe mit allen methodischen Konsequenzen nach, dann sieht man: das Soziale triggert die Depressivität über Mechanismen des Immunsystems, ist also sowohl dem Immunsystem als auch der Depression als mächtiger Taktgeber vorgeschaltet.

Es ist doch das Bestreben in der Wissenschaft, den Faktor zu isolieren, den man untersuchen möchte ...

Das ist das Bestreben der reduktionistischen Wissenschaft. Die Idee dahinter ist: Der Mensch ist aus Stoff aufgebaut und ist reduzierbar auf seine kleinsten Bausteine. Folgt man dieser Logik, muss man natürlich auch nur die kleinsten Bausteine untersuchen. Aber das ist ein Denkfehler, ein Bottom-up-Ansatz, von unten nach oben gedacht. Wenn die Zytokine unserer Abwehrzellen mit ihrer Wirkung aufs Gehirn für Depressionen verantwortlich gemacht werden, wird oft unterschlagen, wie vorher die Psyche top-down die Funktion der Abwehrzellen verändert hat.

Welches ist dann Ihr Ansatz?

Nach dem biopsychosozialen Modell haben wir unten die am wenigsten komplexen Faktoren wie Moleküle, Zellen, Gewebe und Organe. Mit jeder Aktivität der Anpassung an Umweltbedingungen entwickeln sich neue komplexere Schichten darüber, sodass irgendwann einmal aus dem Nervensystem eine Psyche entsteht, aus zwei Psychen eine Beziehung, und aus mehreren Beziehungen eine Familie, aus mehreren Familien eine Gemeinde und aus mehreren Gemeinden eine Gesellschaft. Es entstehen immer höher komplexe Strukturen, wobei davon ausgegangen wird, dass höher Komplexes weniger Komplexes antreibt. Wir werden niemals die Psyche über das Nervensystem verstehen, so wie wir niemals Beziehungen nur aus der Perspektive einer Einzelperson verstehen werden. Zwischenmenschliche Beziehungen sind die bestimmende, übergeordnete Ebene für die Entwicklung und Ausformung des Nervensystems und der Psyche. Somit gehen von den emotional bedeutsamen Beziehungen die wirklichen Themen aus, die uns betreffen – in Gesundheit und Krankheit. Entsprechend können gelungene Beziehungen ein Gesundheitselixier sein.

Wirkt sich die Beziehungsqualität tatsächlich direkt messbar auf die Immunfunktion aus?

Ja, dies zeigt zum Beispiel eine Studie von Janice Kiecolt-Glaser, der Grande Dame der Psychoneuroimmunologie von der Ohio State University. Darin sollten Ehepaare über Problemthemen in ihrer Ehe diskutieren. Man konnte deutlich erkennen, dass je heftiger sie aufeinander losgingen, und je schlechter dabei die Qualität ihrer Interaktion war, desto höher waren ihre Entzündungswerte, und desto schlechter auch ihre Wundheilung. Wenn 100 Prozent die ideale Wundheilungs­geschwindigkeit darstellt, dann lagen jene Paare mit schlechter Streitkultur nur noch bei 60 Prozent.

Und welche Folgen hat nun Stress für das Immunsystem?

Bei einem akuten Stressreiz wird sofort der Sympathikus aktiviert. Der bringt nicht nur Herz und Kreislauf auf Touren, sondern auch Abwehrzellen, die so eine Art ersten Schutzwall bilden. Die Abwehrzellen setzen proentzündliche Zytokine frei. Es könnte ja sein, dass mit diesem akuten Stress auch eine Verletzung oder eine Infektion einhergeht. Langfristig ist diese Entzündungssteigerung für den Organismus aber gefährlich. Der Gegenspieler des Sympathikus, der Parasympathikus, steht über Nervenfasern mit den Abwehrzellen in der Peripherie in Verbindung und registriert die gesteigerte Entzündungsaktivität. Reflexartig reguliert er daraufhin die stressbedingt angestiegene Entzündungs­aktivität herunter, man nennt das den inflammatorischen Reflex. Mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung kommt es weiterhin zur Ausschüttung des stark entzündungshemmenden Kortisols, was zu einer Verschiebung im Immunsystem führt. Das sogenannte zelluläre Immunsystem mit seinen proentzündlichen Zytokinen und Viren bekämpfenden T-Zellen wird heruntergeregelt. Das humorale Immunsystem mit der Antikörperproduktion und entzündungshemmenden Aktivität wird stimuliert. Für die Gesundheit braucht es die Balance der beiden. Wiederum haben Psyche und soziale Beziehungen großen Einfluss darauf, wie sehr der Sympathikus mit seiner proentzündlichen Wirkung in Stresssituationen hochgefahren wird. Auch der Parasympathikus steht stark unter psychischem Einfluss. Seelische Vorgänge bestimmen die Immunbalance.

Psychische Belastungen in der Kindheit sollen diese Regelkreise lang anhaltend stören. Stimmt das?

Absolut! Wir wissen aus der Forschung, dass das Ganze bereits vor der Geburt beginnt. Die Plazenta, die den Fötus ernährt, verhindert allerdings, dass alles eins zu eins aufs Kind übertragen wird. Gleichzeitig hat die Mutter während der Schwangerschaft eine eher antientzündliche Reaktionslage, sie bildet beispielsweise viel schützendes Progesteron. Doch schwere Belastungen während der Schwangerschaft führen zu übermäßigen Kortisolausschüttungen und damit zu einer immunologischen Dysbalance beim Neugeborenen, wie Studien gezeigt haben. Ihr humorales Immunsystem überwiegt. Diese Kinder sind anfälliger für virale Infektionen, weil sie zu wenig Abwehrkraft haben, ihr zelluläres Immunsystem geschwächt ist. Zum anderen entwickeln sie auch leichter Allergien. Sie haben zu viele Antikörper produzierende B-Zellen, die Teil des humoralen Immunsystem sind. Damit haben sie oft auch mehr IgE-Antikörper, die dann an Mastzellen andocken und Heuschnupfen, Asthmaattacken oder Hautausschläge triggern können.

Welche Bedeutung hat die frühkindliche Bindung bei der Entwicklung des Immunsystems?

Eine überaus entscheidende! In der frühen Kindheit besteht eine sogenannte Stress-Hypo-Responsive-Period (SHRP). Vom ersten Lebensjahr bis das Kind in die Pubertät kommt, schüttet es kein oder nur wenig Kortisol aus, wenn es gestresst wird. Das gilt jedoch nur für sicher gebundene Kinder. Wenn Sie denen eine Spritze in den Oberschenkel versetzen, selbst wenn sie vor Schmerzen schreien, sieht man das nicht in der Kortisolantwort. Eine sichere Bindung legt sich wie ein Schutzmantel um das Kind. Bei einer sicheren Bindung und wenig Kortisol kann sich das Immunsystem gesund entwickeln, es kann die Auseinandersetzung mit Viren, Bakterien und Allergenen ungestört lernen. Auch wenn die Eltern im Moment nicht anwesend sind, fantasiert das sicher gebundene Kind die Eltern als Stresspuffer – und schüttet somit kein Kortisol aus. Der imaginierte Schutz der Eltern führt dazu, dass körperlich etwas Anderes passiert, als man erwarten würde. Unglaublich!

Was passiert bei Kindern ohne sichere Bindung?

Ist das Kind nicht sicher gebunden, hat es keine SHRP und erlebt zu viel Stress. Das bei Stress übermäßig freigesetzte Kortisol stört dann mit seiner immundämpfenden Wirkung die normale Immunentwicklung. Außerdem geht damit das Gleichgewicht im Immunsystem, wie beschrieben, verloren. Das Kind wird anfälliger für virale Infektionen und Allergien.

Wie setzt sich die ungünstige Entwicklung fort?

Mit Eintritt in die Pubertät sind Kinder in einem Alter, in dem sie sich der sozialen Lebensrealität öffnen, die kognitive Reife ist vorhanden, um auch komplexere Zusammenhänge zu verstehen. Das Stresssystem sicher gebundener Kinder reagiert mit angemessener Kortisolausschüttung auf Stressoren des Alltags. Doch bei Kindern mit unsicherer Bindung funktioniert das Stresssystem nicht mehr angemessen. Die Kortisolausschüttung ist zu gering. Damit funktioniert auch der Regelkreis nicht mehr.

Was passiert dann, und was sind die Folgen?

Auf eine stressbedingte Aktivierung des zellulären Immunsystems folgt kein ausreichend beschwichtigendes Signal mehr, um die Immunantwort im gesunden Maß einzupendeln. Die Psychoneuroimmunologie spricht von einem „Crash im Stresssystem“ und einer „blunted Cortisol Response“, einer abgeschwächten Kortisolreaktion bei Stress. Sie begünstigt die Entwicklung von Entzündungserkrankungen. Alle Entzündungserkrankungen wie etwa Autoimmunerkrankungen sind ja sogenannte Stressassoziierte Erkrankungen. Das heißt: Wenn Sie einem Autoimmunkranken Blut abnehmen, dann werden Sie zu wenig Kortisol nachweisen, welches zudem weniger wirksam ist. Eine abgeschwächte Kortisolreaktion findet man beispielsweise auch bei einer posttraumatischen Belastungsstörung.

Begünstigen psychische Belastungen in der Kindheit also auch Allergien und später Autoimmunerkrankungen wie Rheuma?

Die Forschung hat im Laufe der Jahre ganz klar die Verbindung zwischen frühem Trauma und späterer Erkrankung zeigen können, insbesondere bei Entzündungs­erkrankungen. Nach einer US-Studie mit mehr als  30 000 Untersuchten hat, wer sechs oder mehr belastende Kindheitserfahrungen durchgemacht hatte, eine um bis zu 20 Jahre verkürzte Lebenserwartung. Zu den belastenden Kindheitserfahrungen zählten etwa eine schwierige Scheidung der Eltern, Suizid von nahen Angehörigen, emotionaler, sexueller, körperlicher Missbrauch, sowie Alkoholismus oder Drogenkonsum in der Familie. Wenn wir heute hören, die technisierte Medizin habe uns doch so viel Leben geschenkt, dann sage ich: Es ist das langsam sich verändernde Menschenbild in unserer Kultur, das eigentlich entscheidend ist für die gesteigerte Lebenserwartung. Vor 100 Jahren haben Eltern  beispielsweise ihre Kinder geschlagen und sich eingeredet, dass sie dadurch stark werden. Heute gehen wir davon aus, dass sie durch Kuscheln stark werden. Schläge traumatisieren Kinder nachweislich und schränken ihre Lebenserwartung dramatisch ein. Kuscheln verlängert hingegen ihr Leben.

Was folgt daraus für Erwachsene? Kann dann vielleicht auch Psychotherapie die Immunfunktion verbessern?

Im Jahr 2020 ist eine große Übersichtsarbeit zum Einfluss von Psychotherapie auf das Immunsystem erschienen. Diese Arbeit  zeigt ganz klar, dass Psychotherapie immunologisch wirksam ist. Dabei untersuchen solche Studien aber meist nur die Wirkung von kognitiver Verhaltenstherapie. Und obwohl diese Form der Psychotherapie meist nicht tief genug in die Konfliktgeschichte eines Menschen hineingeht, lassen sich in verhaltenstherapeutischen Studien bereits signifikant gesteigerte positive und signifikant reduzierte negative Immun­faktoren nachweisen. Ich frage mich daher oft: Wenn schon solche eher oberflächlichen Therapieformen immunologisch wirksam sind, wie heilsam müssten dann erst psychotherapeutische Verfahren sein, die sich des Menschen tiefenpsychologisch in seiner gesamten Existenz annehmen und gemeinsam mit ihm einen längeren Weg gehen? Ich bin überzeugt: würde man das besser untersuchen, wir würden eine Revolution in der Medizin erleben! /Das Gespräch führte Golo Willand  

Diesen Beitrag lesen Sie in unserem Magazin natürlich gesund und munter 02/2025

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